Die Netzentgeltreform 2025: Von Bandlast zu Flexibilität
Die Netzentgeltreform 2025: Von Bandlast zu Flexibilität
Einleitung und Paradigmenwechsel
Die Transformation des deutschen Energiesystems hin zu einer dominierenden Einspeisung aus erneuerbaren Energien hat die Anforderungen an die Netzinfrastruktur und deren Finanzierungsmechanismen grundlegend verändert. Während in der konventionellen Energiewirtschaft die Bandlast – also der gleichmäßige, prognostizierbare Verbrauch – als Garant für Netzstabilität galt und entsprechend regulatorisch privilegiert wurde, stellt sie in einem volatilen Erzeugungssystem zunehmend ein Hindernis für die notwendige Systemintegration dar. Die im September 2025 von der Bundesnetzagentur (BNetzA) veröffentlichten Eckpunkte zur Reform der Netzentgeltsystematik markieren hierbei eine historische Zäsur.
Diese Reform adressiert die zunehmende Diskrepanz zwischen dem physikalischen Dargebot und den ökonomischen Anreizen der bisherigen Netzentgeltverordnung (StromNEV), insbesondere des § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV. Ziel ist die Abkehr von statischen Rabatten für konstante Abnahme hin zu dynamischen Anreizen für netzdienliche Flexibilität. Die Notwendigkeit dieser Reform ergibt sich nicht nur aus regulatorischen Vorgaben der EU, sondern primär aus der physikalischen Realität der Residuallastkurven, die eine Synchronisation von Verbrauch und volatiler Erzeugung erzwingen [^1].
Historische Einordnung: Das Ende des Bandlastprivilegs
Um die Tragweite der Reform von 2025 zu verstehen, ist ein Blick auf die Genese der bisherigen Regelung notwendig. Das sogenannte Bandlastprivileg (§ 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV a.F.) befreite energieintensive Unternehmen weitgehend von Netzentgelten, sofern sie eine Benutzungsstundenzahl von mindestens 7.000 Stunden im Jahr erreichten und einen konstanten Verbrauch aufwiesen.
Die ökonomische Fehlsteuerung
Diese Regelung setzte massive Fehlanreize. Unternehmen wurden dazu motiviert, ihren Verbrauch künstlich zu glätten („Strichfahren“), selbst wenn an der Strombörse negative Preise signalisierten, dass ein Mehrverbrauch systemdienlich wäre, oder Hochpreisphasen eine Lastreduktion nahelegten. Die starre 7.000-Stunden-Grenze führte dazu, dass Flexibilitätspotenziale der Industrie brachlagen, da jede Abweichung vom Band den Verlust millionenschwerer Privilegien riskierte [^2].
Die Bundesnetzagentur hat in ihrem Eckpunktepapier vom September 2025 nun klargestellt, dass die pauschale Subventionierung der Bandlast unter den Bedingungen eines Stromsystems mit über 80 % Erneuerbaren-Anteil eine allokative Ineffizienz darstellt. Anstelle der Belohnung von Starrheit tritt nun die Inzentivierung von Reaktivität. Dies korrespondiert mit den Erkenntnissen aus der Systementwicklungsplanung, die flexible Lasten als unverzichtbaren Bestandteil der Versorgungssicherheit identifiziert.
Die Eckpunkte der Bundesnetzagentur (September 2025)
Das Reformpaket, welches auf dem Konsultationsverfahren NEST 2.0 (Netzentgeltsystematik für die Transformation) aufbaut, sieht eine schrittweise Transformation der Industrie-Netzentgelte vor. Die BNetzA fokussiert sich dabei auf drei zentrale Säulen:
- Abschaffung der statischen Bandlastrabatte: Die pauschalen Befreiungen für Bandlastkunden laufen mit einer Übergangsfrist bis 2028 aus.
- Einführung zeitvariabler Netzentgelte: Implementierung von Hoch- und Niedriglastzeitfenstern, die dynamisch an die lokale Netzsituation und die überregionale Erzeugungssituation gekoppelt sind.
- Flexibilitätsprämie: Ein neuer Mechanismus, der industrielle Verbraucher vergütet, die ihre Lastspitzen netzdienlich verschieben.
Dynamische Anreizmechanismen statt Pauschalerlass
Kernstück der Reform ist die Abkehr von der "Alles-oder-Nichts"-Logik der 7.000-Stunden-Regel. An deren Stelle tritt ein modulares Entgeltsystem. Industrieunternehmen zahlen künftig ein Basis-Leistungsentgelt, das signifikant reduziert werden kann, wenn die Lastspitzen in Zeiten hoher Einspeisung aus Wind und Photovoltaik (PV) gelegt werden oder in Zeiten von Netzengpässen reduziert werden [^3].
Die BNetzA schlägt hierzu ein Ampel-Modell vor, welches in ähnlicher Form bereits für den Haushaltssektor (§ 14a EnWG) diskutiert wurde, nun aber auf die Hoch- und Höchstspannungsebene adaptiert wird. In der „grünen Phase“ (keine Engpässe) gelten Standardtarife. In der „gelben Phase“ (prognostizierte Engpässe) greifen starke Preissignale, die eine Lastverschiebung ökonomisch attraktiv machen. In der „roten Phase“ (akute Gefährdung) erfolgen kurative Eingriffe des Übertragungsnetzbetreibers (Redispatch), die jedoch im neuen System als Ultima Ratio gelten [^4].
Ökonomische Implikationen für die Industrie
Die Reform erzeugt Gewinner und Verlierer innerhalb der deutschen Industrielandschaft. Die Auswirkungen hängen maßgeblich von der technischen Flexibilität der Produktionsprozesse ab.
Flexibilitätsgewinner
Branchen, die über Speicher, Hybridsysteme (z.B. Power-to-Heat) oder unterbrechbare Prozesse verfügen (z.B. Elektrolyseure, bestimmte Kühlprozesse, Aluminiumhütten mit entsprechender Steuerung), profitieren massiv. Sie können ihre Abnahme in Zeitfenster mit niedrigen Netzentgelten verlagern und zusätzlich am Spotmarkt von günstigen Strompreisen profitieren. Für diese Akteure wandelt sich das Netzentgelt von einem Fixkostenblock zu einer optimierbaren Variable [^5].
Herausforderungen für kontinuierliche Prozesse
Für Branchen mit chemisch oder thermisch bedingten kontinuierlichen Prozessen (z.B. Glasindustrie, Grundstoffchemie) stellt die Abschaffung des Bandlastprivilegs eine erhebliche Kostenbelastung dar. Die Reform sieht daher Härtefallregelungen und Übergangsmechanismen vor, um Carbon Leakage zu verhindern. Diese Ausnahmen sind jedoch an strenge Bedingungen geknüpft, etwa den Nachweis der technischen Unflexibilität durch externe Gutachten und die Verpflichtung zur Erschließung kleinteiliger Flexibilitätspotenziale in Nebenanlagen [^6].
Technische Implementierung und Datenanforderungen
Die Umsetzung der Reform erfordert eine signifikante Aufrüstung der Mess- und Steuerungstechnik (siehe Smart-Meter-Rollout). Während Großverbraucher bereits über registrierende Leistungsmessung (RLM) verfügen, fehlt es oft an der Schnittstelle für die Echtzeit-Kommunikation der Netzzustände.
Die Eckpunkte vom September 2025 fordern die Einführung standardisierter API-Schnittstellen zwischen Verteilnetzbetreibern (VNB) und industriellen Energiemanagementsystemen (EMS). Dies ermöglicht eine automatisierte Reaktion der Anlagen auf Preissignale ohne manuelle Eingriffe. Kritiker bemängeln hierbei die noch fehlenden technischen Standards für eine diskriminierungsfreie Signalübermittlung über alle Spannungsebenen hinweg [^2].
Die BNetzA plant zudem, die Veröffentlichung der Hoch- und Niedriglastzeitfenster (HT/NT) zu flexibilisieren. Wurden diese bisher jährlich im Voraus festgelegt, sollen sie künftig saisonal oder sogar wöchentlich angepasst werden können, um der Saisonalität der Erneuerbaren Rechnung zu tragen.
Fazit und Ausblick
Die Eckpunkte der Bundesnetzagentur vom September 2025 zur Reform der Netzentgelte läuten das Ende einer Ära ein. Das Narrativ, dass konstanter Verbrauch per se netzdienlich sei, wird durch die physikalische Realität der Energiewende widerlegt. Die Transformation von der Bandlast zur Flexibilität ist kein rein regulatorischer Akt, sondern eine ökonomische Notwendigkeit, um die Integrationskosten der Erneuerbaren Energien zu begrenzen.
Für die betroffenen Unternehmen bedeutet dies einen Paradigmenwechsel im Energiemanagement: Weg von der reinen Bezugsoptimierung hin zur aktiven Bewirtschaftung von Flexibilitäten. Zwar bestehen bezüglich der technischen Umsetzung und der Übergangsfristen noch Unsicherheiten, doch die Richtung ist klar vorgegeben: Das Netz der Zukunft bezahlt nicht für Starrheit, sondern für Anpassungsfähigkeit.
Quellenverzeichnis
[^1]: Bundesnetzagentur. (2025). Eckpunkte zur Weiterentwicklung der Netzentgeltsystematik für Industrie und Gewerbe (NEST-Industrie). (Beschlussentwurf BK4-25-099). Bonn: BNetzA. Das zentrale Dokument der Reform, welches die Abkehr vom Bandlastprivileg und die Einführung dynamischer Komponenten detailliert beschreibt.
[^2]: Consentec & r2b energy consulting. (2024). Flexibilitätsanreize im Netzentgeltsystem: Ökonomische Analyse der Reformoptionen. Gutachten im Auftrag des BMWK. Eine umfassende Analyse der volkswirtschaftlichen Kosten der bisherigen § 19-Regelung und Simulationen der neuen Anreizmodelle.
[^3]: Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). (2025). Stellungnahme zum Eckpunktepapier der BNetzA: Industriepreise im Wandel. Berlin: BDEW. Positionspapier des Verbands, das die technische Machbarkeit der Flexibilisierung bewertet und Übergangsfristen für kontinuierliche Produktionsprozesse fordert.
[^4]: Schiffer, H.-W., & Klobasa, M. (2025). Märkte für Flexibilität: Von der Theorie zur Praxis der Netzentgeltreform. Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 75(9), 12-18. Fachartikel zur wissenschaftlichen Einordnung der Ampel-Systematik und der Abgrenzung zu Redispatch-Maßnahmen.
[^5]: Fraunhofer ISI. (2025). Demand Side Management in der energieintensiven Industrie: Potenziale unter neuen regulatorischen Rahmenbedingungen. Karlsruhe: Fraunhofer Verlag. Studie über die technischen Potenziale verschiedener Industriebranchen zur Lastverschiebung unter dem Einfluss der neuen Netzentgeltstruktur.
[^6]: Monopolkommission. (2025). Wettbewerbspolitische Bewertung der Netzentgeltbefreiungen. (Sondergutachten Energie 2025). Bonn. Kritische Würdigung der Ausnahmeregelungen und Forderung nach strengeren Kriterien für Härtefallregelungen, um Wettbewerbsverzerrungen zu minimieren.