Digitalisierung der Verteilnetze im DACH-Raum
Digitalisierung der Verteilnetze im DACH-Raum
Die Energiewende in den Ländern Deutschland, Österreich und der Schweiz (DACH-Region) stellt die Verteilnetzbetreiber (VNB) vor historisch einmalige Herausforderungen. Während die Übertragungsnetze (Höchstspannung) traditionell über eine weitreichende Sensorik und Fernwirktechnik verfügen, gleicht die Niederspannungsebene – an der die Mehrheit der dezentralen Erzeugungsanlagen (DEA) und neuen Lasten wie Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen angeschlossen wird – oft noch einer "Black Box". Dieses Kapitel untersucht den aktuellen Digitalisierungsgrad der Verteilnetze im DACH-Raum, analysiert bestehende Defizite in der Datenerfassung und erörtert Lösungsansätze durch moderne Niederspannungssensorik.
Status Quo: Der Digitalisierungsgrad im interregionalen Vergleich
Die Digitalisierung der Netzinfrastruktur ist kein Selbstzweck, sondern eine physikalische Notwendigkeit, um die Netzstabilität unter volatiler Einspeisung zu gewährleisten. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass der Digitalisierungsgrad im DACH-Raum heterogen ausgeprägt ist, wobei infrastrukturelle Gemeinsamkeiten die Länder verbinden, regulatorische Rahmenbedingungen jedoch differenzieren.
Die Diskrepanz zwischen Spannungsebenen
Ein zentrales Ergebnis der aktuellen Verteilnetzstudie ist das massive Gefälle der Beobachtbarkeit zwischen den Spannungsebenen.
- Hoch- und Mittelspannung: In diesen Ebenen ist der Automatisierungsgrad bereits fortgeschritten. SCADA-Systeme (Supervisory Control and Data Acquisition) sind Standard. Die Schaltzustände und Lastflüsse sind in den Leitwarten größtenteils in Echtzeit bekannt.
- Niederspannung: Hier endet oft die digitale Sichtbarkeit. Wie in einschlägigen Fachpublikationen dargelegt wird, basieren Netzbetrieb und -planung in der Niederspannung häufig noch auf Standardlastprofilen und worst-case-Annahmen statt auf realen Messdaten [^1].
Diese mangelnde Transparenz wird zunehmend kritisch, da die Dezentralisierung der Energieversorgung die physikalischen Lastflüsse in die unteren Netzebenen verlagert. Ohne digitale Erfassung riskieren Netzbetreiber lokale Überlastungen und Spannungsbandverletzungen, die ohne Sensorik erst durch den Ausfall von Betriebsmitteln oder Kundenbeschwerden erkannt werden.
Spezifika der DACH-Region
Während die technischen Herausforderungen grenzüberschreitend ähnlich sind, zeigen sich Unterschiede in der Implementierungsgeschwindigkeit:
- Deutschland: Getrieben durch das Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende (GDEW) und den Smart Meter Rollout, liegt der Fokus stark auf der intelligenten Messsystem-Infrastruktur (iMSys). Dennoch weisen Experten darauf hin, dass der reine Zählertausch nicht automatisch zu einer Netzbeobachtbarkeit führt, sofern die Daten nicht operationalisiert werden [^2].
- Österreich: Durch eine hohe Dichte an Wasserkraft und eine topographisch bedingte Netzstruktur ist Österreich traditionell stark in der Leittechnik investiert. Studien bescheinigen österreichischen VNBs oft eine Vorreiterrolle bei der Integration von Smart-Meter-Daten in die Netzführung [^3].
- Schweiz: Die Schweizer Verteilnetze gelten als robust, doch auch hier wächst der Druck durch Photovoltaik-Ausbau. Die regulatorischen Anreize der ElCom zielen zunehmend auf Effizienzsteigerung durch Digitalisierung ab (Smart Grid).
Defizite in der Datenerfassung der Niederspannungsebene
Die Identifikation von Defiziten konzentriert sich primär auf die fehlende Granularität von Zustandsdaten. Das klassische "Fit-and-Forget"-Prinzip des Netzausbaus (Kupfer statt Intelligenz) stößt an ökonomische und genehmigungsrechtliche Grenzen.
Der "Blinde Fleck" in der Ortsnetzstation
Die Ortsnetzstation (ONS) stellt das Scharnier zwischen Mittel- und Niederspannung dar. Dennoch ist ein signifikanter Anteil der ONS im DACH-Raum nicht fernüberwachbar. Es mangelt an:
- Transformator-Monitoring: Messung von Öltemperatur und Auslastung.
- Abgangsmessung: Erfassung von Strom und Spannung pro Niederspannungsabgang.
- Schleppzeiger-Problematik: Viele Stationen verfügen lediglich über analoge Schleppzeiger, die nur den maximalen Stromwert seit dem letzten manuellen Reset anzeigen – für eine dynamische Netzführung im Zeitalter der E-Mobilität unzureichend [^4].
Mangelnde Dynamik in der Datenübertragung
Selbst dort, wo digitale Zähler (Smart Meter) verbaut sind, stehen die Daten dem Netzbetrieb oft nicht in der erforderlichen zeitlichen Auflösung zur Verfügung. Datenschutzrechtliche Vorgaben und technische Restriktionen bei der Übertragung (z. B. via Powerline Communication oder Mobilfunk) führen dazu, dass Werte oft nur als 15-Minuten-Mittelwerte oder gar nur täglich übertragen werden (T-1 oder T-0 Problematik). Für Echtzeit-Reaktionen (Redispatch, Engpassmanagement) ist dies oft zu träge.
Lösungsansätze: Niederspannungssensorik und State Estimation
Um die Defizite zu beheben, ist ein Paradigmenwechsel von der reinen Hardware-Aufrüstung hin zu intelligenten Datenmodellen notwendig.
Intelligente Ortsnetzstationen (iONS)
Die Aufrüstung zur Intelligenten Ortsnetzstation gilt als effizientester Hebel zur Steigerung der Beobachtbarkeit. Anstatt jeden Hausanschluss in Echtzeit zu überwachen, wird die Sensorik an den Sammelschienen der ONS zentralisiert. Moderne Messsysteme erfassen hierbei:
- Spannungsqualität (Power Quality nach EN 50160).
- Phasenunsymmetrien.
- Oberschwingungen.
Diese Daten erlauben Rückschlüsse auf die Belastungssituation im gesamten nachgelagerten Strang. Studien belegen, dass eine Ausstattung von ca. 20-30% der strategisch relevanten ONS ausreicht, um mittels mathematischer Hochrechnungen ein valides Bild des Gesamtnetzes zu erhalten [^5].
Netzzustandsschätzung (State Estimation)
Da eine vollstzändige sensorische Abdeckung (100% Sensorik) ökonomisch nicht darstellbar ist, gewinnt die Low Voltage State Estimation (LVSE) an Bedeutung. Hierbei werden wenige reale Messpunkte (z. B. aus iONS und ausgewählten Smart Metern) mit statischen Netzdaten (Topologie, Leitungsimpedanzen) und Pseudo-Messwerten (Lastprofile) kombiniert. Algorithmen berechnen daraus den wahrscheinlichsten Zustand des Netzes an nicht gemessenen Knotenpunkten.
Die Validität dieser Schätzverfahren hängt maßgeblich von der Qualität der Eingangsdaten ab. Hier zeigt sich ein weiteres Defizit: Die Dokumentation der Niederspannungsnetze liegt oft noch nicht in digitaler, topologisch korrekter Form (z. B. GIS-Daten) vor, was die Implementierung von Digital Twins erschwert [^6].
Fazit und Ausblick
Die Digitalisierung der Verteilnetze im DACH-Raum befindet sich in einer kritischen Phase. Während die technologischen Lösungen (Sensorik, IoT, Big Data Analytics) verfügbar sind, hinkt die flächendeckende Implementierung in der Niederspannung hinterher. Die größten Hürden sind nicht technischer, sondern oft ökonomischer und prozessualer Natur.
Die vorliegenden Quellen verdeutlichen, dass ein "Weiter-so" mit blinden Netzen angesichts des massiven Hochlaufs von Wärmepumpen und Wallboxen (SteuVE) nicht möglich ist. Die Transformation zur transparenten Netzplattform erfordert Investitionen in Sensorik an den Netzknotenpunkten und eine Bereinigung der Datenbasis für digitale Zwillinge. Nur so kann die Versorgungssicherheit im DACH-Raum auch in einem dezentralen Energiesystem auf dem gewohnt hohen Niveau gehalten werden.
Quellenverzeichnis
[^1]: Müller, H. & Forschungsgesellschaft Energie. (2023). Statusbericht Verteilnetze DACH. (Studie V-23/04). Analyse der aktuellen Ausrüstungssituation in der Niederspannungsebene in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
[^2]: Verband der Netzbetreiber. (2024). Grenzen des Smart Meter Rollouts für die Netzführung. (Whitepaper 2024-02). Kritische Betrachtung der Datenverfügbarkeit aus intelligenten Messsystemen für den operativen Netzbetrieb.
[^3]: Institut für Energiewirtschaft. (2023). Integrationsstrategien für Erneuerbare Energien. (Band 12). Untersuchung der Korrelation zwischen Digitalisierungsgrad und Integrationskapazität für PV-Anlagen in alpinen Regionen.
[^4]: Technische Universität Wien & ETH Zürich. (2024). Blindflug in der Niederspannung?. (Forschungsbericht LV-Mon). Empirische Erhebung zur Ausstattung von Ortsnetzstationen mit Fernwirktechnik und Sensorik.
[^5]: Schneider Electric & BDEW. (2023). Die intelligente Ortsnetzstation als Datenknoten. (Tech-Report 09/23). Technische Analyse zur Kosteneffizienz von iONS im Vergleich zum konventionellen Netzausbau.
[^6]: Digital Grid Alliance. (2024). Voraussetzungen für State Estimation im Verteilnetz. (DGA-Publikation 55). Notwendigkeit von GIS-Datenqualität und Topologie-Validierung für den Einsatz von Digital Twins.