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Evolution des Engpassmanagements: Redispatch 2.0 zu 3.0

Evolution des Engpassmanagements: Redispatch 2.0 zu 3.0

Einführung in den Paradigmenwechsel des Engpassmanagements

Die Transformation des deutschen Energiesystems hin zu einer dominierten Erzeugung aus erneuerbaren Energien (EE) erfordert eine fundamentale Neuausrichtung der systemstabilisierenden Maßnahmen. Das Engpassmanagement, traditionell als Redispatch bekannt, durchläuft dabei eine signifikante Evolution. Während der Übergang zum Redispatch 2.0 im Jahr 2021 bereits die Integration der Verteilnetzbetreiber und Anlagen ab 100 kW installierter Leistung in die Engpassbewirtschaftung forcierte, steht mit dem konzeptionellen Schritt hin zum Redispatch 3.0 die nächste Zäsur bevor. Diese Phase zeichnet sich durch die Abkehr von rein planwertbasierten Modellen hin zu einer dynamischen, datengetriebenen Integration kleinteiliger Flexibilitäten aus.

Die Notwendigkeit dieser Weiterentwicklung ergibt sich aus der physikalischen Realität der Netze: Die Volatilität der Einspeisung und die zunehmende Elektrifizierung des Wärmesektors und der Mobilität führen zu dezentralen Engpässen, die mit den klassischen Instrumenten des Übertragungsnetzbetriebs nicht mehr effizient zu beheben sind. Ziel dieses Kapitels ist die Analyse des technologischen und ökonomischen Pfades von Redispatch 2.0 zu 3.0, unter besonderer Berücksichtigung der Kosteneffizienz und der Rolle verteilter künstlicher Intelligenz.

Status Quo und Limitationen: Das Erbe des Redispatch 2.0

Der mit dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz (NABEG) eingeführte Redispatch 2.0 markierte einen administrativen Kraftakt, indem er das Planwertmodell etablierte. In diesem Regime werden Engpässe auf Basis von Prognosen (Planwerten) identifiziert, die von den Einsatzverantwortlichen (EIV) an die Netzbetreiber übermittelt werden.

Das Planwert-Dilemma

Ein zentrales Defizit des Status quo ist die Diskrepanz zwischen Planwert und physikalischer Realität. Die Prognosegüte für EE-Anlagen ist inhärent varianzbehaftet. Werden Maßnahmen auf Basis konservativer Planwerte abgerufen, führt dies häufig zu ineffizienten Eingriffen – entweder wird zu viel Leistung abgeregelt ("Curtailment") oder zu viel konventionelle Leistung kontrahiert. Zudem bleiben signifikante Flexibilitätspotenziale im Niederspannungsbereich ungenutzt, da Anlagen unter 100 kW sowie steuerbare Verbrauchseinrichtungen (SteuVE) im Redispatch 2.0 weitgehend außen vor bleiben.

Redispatch 3.0: Konzeptionelle Weiterentwicklung und Technologische Basis

Der Übergang zu Redispatch 3.0 (RD3.0) adressiert diese Limitationen durch einen Paradigmenwechsel: weg von statischen Planwerten, hin zu einer Echtzeit-Optimierung unter Einbeziehung der Niederspannungsebene.

Integration kleinteiliger Flexibilitäten und Distributed AI

Das Kernstück von Redispatch 3.0 ist die Nutzbarmachung einer breiten Masse an dezentralen Einheiten – von der privaten Photovoltaikanlage über Heimspeicher bis hin zu Elektrofahrzeugen und Wärmepumpen. Die technische Herausforderung liegt hierbei in der enormen Anzahl der zu koordinierenden Aktoren. Forschungsprojekte, wie das vom OFFIS – Institut für Informatik begleitete Vorhaben "RD3.0", untersuchen hierzu den Einsatz von Distributed Artificial Intelligence (Verteilte KI). Ziel ist es, standardisierte Systeme zu entwerfen und zu bewerten, die eine automatisierte Koordination dieser Kleinstanlagen ermöglichen[^1].

Anstatt jede einzelne Anlage zentral zu steuern, was zu unbewältigbaren Datenmengen führen würde, setzen RD3.0-Ansätze auf Aggregation und dezentrale Entscheidungsfindung. Algorithmen der verteilten Intelligenz ermöglichen es lokalen Netzabschnitten, ihren Flexibilitätsbedarf und ihr Potenzial autonom zu ermitteln und lediglich aggregierte Zustandsberichte an die höhere Netzebene zu melden. Dies reduziert die Komplexität der Datenintegration drastisch und erhöht die Resilienz des Gesamtsystems.

Feldtests und Standardisierung

Die praktische Umsetzbarkeit dieser Konzepte wird derzeit durch umfangreiche Feldtests validiert. Dabei liegt ein Fokus auf der Interoperabilität der Smart-Grid-Komponenten. Das OFFIS-Institut betont in diesem Kontext die Wichtigkeit von "Smart Grid Testing" und dem Entwurf vertrauenswürdiger Systembetriebe, um die Sicherheit der kritischen Infrastruktur auch bei hochgradiger Automatisierung zu gewährleisten[^2].

Ökonomische Analyse: Kosteneffizienz im Engpassmanagement

Ein primärer Treiber für die Weiterentwicklung des Engpassmanagements ist die Notwendigkeit der Kostensenkung. Die Kosten für Redispatch-Maßnahmen werden über die Netzentgelte auf die Letztverbraucher umgelegt und stellen einen signifikanten Bestandteil des Strompreises dar.

Entwicklung der Maßnahmenvolumina und Kostenstrukturen

Betrachtet man die jüngere Entwicklung, so lassen sich bereits Effizienzgewinne durch Netzausbau und optimierte Prozesse erkennen. Im Jahr 2024 verringerte sich das Maßnahmenvolumen im Netzengpassmanagement um rund 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr[^3]. Dieser Rückgang korreliert nicht nur mit operativen Verbesserungen, sondern auch mit externen makroökonomischen Faktoren.

So führten beispielsweise gesunkene Brennstoffpreise dazu, dass die Kosten für den konventionellen Redispatch (das Hochfahren von Kraftwerken jenseits des Engpasses) sanken. Die Bundesnetzagentur und die Plattform SMARD weisen darauf hin, dass diese Kombination aus verringertem Volumen und günstigeren Brennstoffen eine spürbare Entlastung für die Netzkosten darstellte[^4].

Hebung von Effizienzpotenzialen durch RD3.0

Redispatch 3.0 verspricht, diese Kostensenkungspotenziale weiter zu skalieren. Die ökonomische Rationalität basiert auf zwei Säulen:

  1. Allokative Effizienz: Durch die Einbeziehung von Kleinstanlagen erhöht sich die Liquidität im Markt für Flexibilität. Anstatt teure Großkraftwerke im "Redispatch-Markt" zu nutzen oder Windparks kostenintensiv abzuregeln, können lokale Engpässe durch zeitliche Verschiebung von Lasten (z.B. Laden von E-Autos) kostenneutral oder kostengünstig gelöst werden.
  2. Vermeidung von Netzausbau: Ein intelligentes, dezentrales Engpassmanagement kann die Spitzenlast in den Verteilnetzen glätten ("Peak Shaving"). Dies reduziert den Druck, das physische Kupfernetz auf die maximal denkbare Lastspitze auszulegen.

Die Analyse der Daten zeigt, dass eine reine Reduktion des Maßnahmenvolumens, wie 2024 beobachtet, zwar positiv ist, die strukturelle Kostensenkung jedoch erst durch die Substitution teurer Maßnahmen durch günstige, dezentrale Flexibilität im Sinne des RD3.0 nachhaltig gesichert werden kann.

Herausforderungen der Implementierung

Trotz der evidenten Vorteile stehen der flächendeckenden Einführung von Redispatch 3.0 signifikante Hürden entgegen:

  • Digitalisierungsgrad: Die Voraussetzung für RD3.0 ist der flächendeckende Rollout intelligenter Messsysteme (iMSys) und Steuerboxen. Die aktuelle Penetrationsrate in Deutschland hinkt den Erfordernissen eines Echtzeit-Redispatch noch hinterher.
  • Regulatorischer Rahmen: Das aktuelle EnWG und die Festlegungen der Bundesnetzagentur basieren noch stark auf der Logik zentraler Großanlagen. Die Definition von "Flexibilität" und deren Vergütung im Niederspannungsbereich muss rechtssicher ausgestaltet werden, um Diskriminierungsfreiheit zu gewährleisten.
  • Datenhoheit und Datenschutz: Die Nutzung verteilter KI und die Verarbeitung granularer Verbrauchsdaten erfordern strenge Datenschutzkonzepte ("Privacy by Design"), um die Akzeptanz bei den Endkunden zu sichern.

Fazit

Die Evolution von Redispatch 2.0 zu 3.0 ist kein bloßes technisches Update, sondern ein systemischer Wandel der Netzführung. Die Daten aus dem Jahr 2024 belegen, dass eine Reduktion der Eingriffsvolumina möglich ist[^5]. Um diesen Trend jedoch zu verstetigen und die Kosten der Energiewende sozialverträglich zu halten, ist die technologische Erschließung der Dezentralität, wie sie in Projekten zur verteilten KI und Datenintegration erforscht wird, alternarlos. Der Weg führt vom passiven Verteilnetz hin zum aktiven Smart Grid, in dem jede Kilowattstunde Flexibilität zur Systemstabilität beiträgt.

Quellenverzeichnis

[^1]: OFFIS. (2025). Projekt RD3.0: Entwicklung von Redispatch 3.0. (Webressource). Forschungsschwerpunkte im Bereich Distributed Artificial Intelligence und Entwurf standardisierter Systeme für das Engpassmanagement.

[^2]: OFFIS. (2025). Smart Grid Testing und Vertrauenswürdiger Systembetrieb. (Projektbeschreibung). Analyse von Feldtests und Datenintegration für dezentrale Energiesysteme.

[^3]: SMARD/Bundesnetzagentur. (2025). Entwicklung des Maßnahmenvolumens im Netzengpassmanagement 2024. (Artikel 216636). Analyse der Verringerung des Maßnahmenvolumens um 12 Prozent und der Auswirkungen gesunkener Brennstoffpreise.

[^4]: SMARD/Bundesnetzagentur. (2025). Kostentreiber im Redispatch: Brennstoffpreise und Volumenentwicklung. (Datenanalyse). Detaillierte Betrachtung der ökonomischen Faktoren im Jahr 2024.

[^5]: SMARD/Bundesnetzagentur. (2025). Jahresauswertung Netzengpassmanagement. (Statistik). Zusammenfassende Bewertung der Engpasssituation und der Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen.