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Marktbasierte Beschaffung von Flexibilität

Marktbasierte Beschaffung von Flexibilität

Einleitung und regulatorischer Kontext

Die Transformation des europäischen Energiesystems hin zu einer dezentralen, durch volatile erneuerbare Energien geprägten Erzeugungsstruktur erfordert einen fundamentalen Wandel in der Netzbetriebsführung. Während traditionell der Netzausbau ("Kupferplatte") als primäres Mittel zur Bewältigung von Last- und Erzeugungsspitzen galt, rückt zunehmend die aktive Bewirtschaftung von Netzengpässen durch den Einsatz von Flexibilität in den Fokus. Ein zentrales Element dieses Paradigmenwechsels bildet das sogenannte „Clean Energy Package“ der Europäischen Union, insbesondere die Verordnung (EU) 2019/943 über den Elektrizitätsbinnenmarkt.

Diese Verordnung postuliert den Vorrang marktbasierter Mechanismen gegenüber dirigistischen Eingriffen. Artikel 32 der Verordnung verpflichtet Verteilernetzbetreiber (VNB), Flexibilitätsdienstleistungen für das Engpassmanagement in ihren Netzen nach transparenten, diskriminierungsfreien und marktbasierten Verfahren zu beschaffen[^1]. Dies markiert eine Abkehr vom reinen „Cost-plus“-Ansatz hin zu einem System, in dem Flexibilität als handelbares Gut definiert wird, das sowohl der Systemstabilität als auch der Marktoptimierung dient.

Definition und Abgrenzung von Flexibilität

Im akademischen Diskurs sowie in der regulatorischen Praxis wird Flexibilität als die Fähigkeit eines Akteurs (Erzeuger, Verbraucher oder Speicher) definiert, sein Einspeise- oder Entnahmeverhalten auf ein externes Signal hin anzupassen. Diese Anpassung kann zeitlich, örtlich oder qualitativ (Wirk- vs. Blindleistung) erfolgen.

Marktlicher vs. Netzbedingter Einsatz

Eine präzise Abgrenzung zwischen dem marktlichen und dem netzbedingten Einsatz von Flexibilität ist für das Marktdesign essenziell, um Doppelvermarktungen und ineffiziente Anreizstrukturen zu vermeiden.

  1. Marktlicher Einsatz (Handelsbasierte Flexibilität): Hierbei agieren Marktteilnehmer (BRPs - Balance Responsible Parties) an den Spotmärkten (Day-Ahead, Intraday) oder Regelenergiemärkten, um ihr Portfolio zu optimieren oder Arbitragegewinne zu erzielen. Der Einsatz erfolgt preisgetrieben und dient der globalen Bilanzierung von Angebot und Nachfrage innerhalb einer Gebotszone. Netzrestriktionen werden in diesem Stadium („Copper Plate“-Annahme) abstrahiert.
  2. Netzbedingter Einsatz (Systemdienliche Flexibilität): Dieser Einsatz wird durch den Netzbetreiber initiiert, um physikalische Engpässe zu beheben (Congestion Management) oder die Spannungsqualität zu sichern[^2]. Hier ist die Lokalisierung der Flexibilität von entscheidender Bedeutung.

Die EU-Verordnung 2019/943 fordert, dass auch der netzbedingte Einsatz soweit wie möglich über Märkte organisiert wird, anstatt – wie beim klassischen Redispatch 2.0 in Deutschland – rein administrativ bzw. kostenbasiert abgerufen zu werden.

Mechanismen der marktbasierten Beschaffung

Die Implementierung marktbasierter Beschaffungsmechanismen für netzdienliche Flexibilität stellt Netzbetreiber und Regulierungsbehörden vor komplexe Herausforderungen hinsichtlich des Marktdesigns.

Koordinationsmodelle und Beschaffungszeiträume

Die Beschaffung kann in verschiedenen zeitlichen Dimensionen erfolgen, die unterschiedliche Produkteigenschaften adressieren:

  • Langfristige Kapazitätsmärkte (Reservierung): Der Netzbetreiber kontrahiert Flexibilitätsanbieter über Monate oder Jahre, um die Verfügbarkeit von Flexibilität in kritischen Netzbereichen zu sichern (Availability Payment). Dies ist besonders in Regionen mit strukturellen Engpässen relevant, um Investitionssicherheit für Flexibilitätsoptionen (z.B. Batteriespeicher) zu gewähren[^3].
  • Kurzfristige Abrufmärkte (Aktivierung): In Anlehnung an den Intraday-Handel erfolgt der Abruf der Flexibilität ("Activation") kurz vor Erfüllung. Hier konkurrieren Anbieter über den Arbeitspreis (Energy Payment). Ein liquider Kurzfristmarkt ermöglicht eine effizientere Allokation, da die Opportunitätskosten der Anbieter dynamisch abgebildet werden.

Ein kritischer Erfolgsfaktor ist die Koordination zwischen Übertragungsnetzbetreibern (ÜNB) und Verteilernetzbetreibern (VNB). Da Flexibilitätspotenziale häufig im Verteilnetz angeschlossen sind, aber auch für Systemdienstleistungen auf ÜNB-Ebene (z.B. Frequenzhaltung) relevant sein können, bedarf es eines robusten Datenaustauschs und priorisierter Abrufregeln, um gegenläufige Steuerungen zu vermeiden[^4].

Lokale Flexibilitätsmärkte und Plattformen

Um die spezifischen lokalen Anforderungen abzubilden, entstehen zunehmend Konzepte für lokale Flexibilitätsmärkte (LFM). Im Gegensatz zu den „Zonal Pricing“-Mechanismen des Großhandels, basieren LFM auf einer feingranularen Netztopologie. Anbieter speisen ihre Gebote (Preis-Mengen-Kombinationen inklusive lokaler Kennung) in eine Plattform ein. Der Netzbetreiber agiert als alleiniger Nachfrager (Single-Buyer-Modell) in seinem Netzgebiet.

Die ökonomische Effizienz dieser Märkte hängt stark von der Marktliquidität ab. In eng begrenzten Netztopologien besteht das Risiko, dass nur wenige Anbieter (Oligopol oder Monopol) existieren, was die Gefahr von Marktmachtmissbrauch („Gaming“) erhöht. Insbesondere das sogenannte „Inc-Dec-Gaming“ – das künstliche Erzeugen von Engpässen, um von deren Behebung zu profitieren – muss durch striktes Marktmonitoring und regulatorische Obergrenzen (Price Caps) adressiert werden[^5].

Regulatorische Hürden und Implementierung in Deutschland

Während die EU-Ebene den marktbasierten Ansatz forciert, gestaltet sich die nationale Umsetzung in Deutschland differenziert. Das deutsche Energierecht (§ 13a, § 14c EnWG) sah lange Zeit primär einen kostenbasierten Ansatz (Redispatch) vor. Die Einführung markbasierter Instrumente für die Engpassbewirtschaftung im Verteilnetz wird jedoch zunehmend durch die Bundesnetzagentur evaluiert, insbesondere im Kontext der Festlegungsverfahren zur Integration steuerbarer Verbrauchseinrichtungen (§ 14a EnWG neu).

Ein wesentliches Hemmnis für die vollständige Marktöffnung ist die Definition der „Baseline“. Um eine erbrachte Flexibilitätsleistung vergüten zu können, muss ein hypothetischer Referenzfahrplan (Baseline) existieren, der das Verhalten des Akteurs ohne den Abruf beschreibt. Die methodische Festlegung dieser Baseline ist bei stochastischen Lasten und fluktuierender Einspeisung komplex und manipulationsanfällig[^6].

Fazit

Die marktbasierte Beschaffung von Flexibilität gemäß EU-Verordnung 2019/943 stellt einen notwendigen Evolutionsschritt des europäischen Strommarktdesigns dar. Sie verspricht eine höhere statische und dynamische Effizienz durch die Preissignalisierung von Netzknappheiten. Dennoch darf der Marktmechanismus die Systemsicherheit nicht gefährden. Hybride Modelle, die marktliche Beschaffung priorisieren, aber im Notfall auf administrative Eingriffe („Back-Up“) zurückgreifen, erscheinen als der pragmatischste Lösungspfad für die Übergangsphase. Die Digitalisierung der Netze (Smart Grids) ist dabei die zwingende technologische Voraussetzung.

Quellenverzeichnis

[^1]: Europäische Union. (2019). Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 über den Elektrizitätsbinnenmarkt. (ABl. L 158). Diese Verordnung legt die Grundsätze für den Elektrizitätsbinnenmarkt fest und fordert in Art. 32 die marktbasierte Beschaffung von Flexibilität durch Verteilernetzbetreiber, sofern dies kosteneffizient ist.

[^2]: Bundesnetzagentur. (2024). Evaluierungsbericht zu Anreizmechanismen für netzdienliche Flexibilität. (BNetzA-Ref-24-02). Analyse der nationalen Umsetzung europäischer Vorgaben hinsichtlich der Beschaffung von nicht-frequenzgebundenen Systemdienstleistungen und der Abgrenzung zum Redispatch 2.0.

[^3]: Agency for the Cooperation of Energy Regulators (ACER). (2023). Framework Guidelines on Demand Response. (FG-2023-Elec). Detaillierte Leitlinien zur Ausgestaltung von Flexibilitätsprodukten und zur Harmonisierung der Marktregeln für Nachfragesteuerung in Europa.

[^4]: ENTSO-E & EU DSO Entity. (2024). Roadmap on the Evolution of the Regulatory Framework for Distributed Flexibility. Gemeinsames Positionspapier der europäischen Übertragungs- und Verteilernetzbetreiber zur Koordination von Flexibilitätsabrufen über Netzebenen hinweg.

[^5]: Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik (IEE). (2023). Marktdesign für lokale Flexibilitätsmärkte: Herausforderungen bei Liquidität und Marktmacht. (Studie im Auftrag des BMWK). Untersuchung zu den Risiken strategischen Bieterverhaltens (Gaming) in topologisch begrenzten Netzbereichen.

[^6]: Monopolkommission. (2023). Energie 2023: Wettbewerbsverzerrungen im Zuge der Energiewende vermeiden. (Sondergutachten 85). Kapitel zur Ökonomie der Flexibilitätsbeschaffung, mit Fokus auf die Problematik der Baseline-Definition und Empfehlungen zur Weiterentwicklung des § 14a EnWG.


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