Neue Erlösquellen: Marktgestützte Blindleistungsbeschaffung
Neue Erlösquellen: Marktgestützte Blindleistungsbeschaffung
1. Einleitung: Der Paradigmenwechsel in der Spannungshaltung
Die Transformation des deutschen Energiesystems, gekennzeichnet durch die Substitution konventioneller Synchrongeneratoren durch stromrichtergeführte Erzeugungsanlagen (Erneuerbare Energien, Speicher), erzwingt eine fundamentale Neuausrichtung der [Systemdienstleistungen]. Eine zentrale Herausforderung stellt hierbei die Spannungshaltung dar, welche physisch untrennbar mit der Bereitstellung von Blindleistung (Q) verbunden ist.
Traditionell basierte die Blindleistungsbeschaffung auf verpflichtenden Anschlussbedingungen (Grid Codes), bei denen Kraftwerke im Rahmen ihrer technischen Möglichkeiten Blindleistung unentgeltlich oder zu regulierten Sätzen bereitstellen mussten. Mit dem Fortschreiten der Energiewende und der zunehmenden Dezentralisierung der Einspeisung reicht dieses statische Modell nicht mehr aus. Die räumliche Diskrepanz zwischen Erzeugung (vorwiegend Wind im Norden) und Verbrauchszentren sowie der Wegfall der großen rotierenden Massen in den Verbrauchsschwerpunkten erfordern neue, flexible Mechanismen.
In diesem Kontext etabliert sich die marktgestützte Beschaffung von Blindleistung als innovatives Instrument. Der Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) 50Hertz Transmission GmbH (50Hertz) nimmt hierbei eine Pionierrolle ein. Diese Fallstudie analysiert die Einführung entsprechender Marktmechanismen und expliziert die sich daraus ergebenden ökonomischen Implikationen für Betreiber von Großbatteriespeichern (BESS).
2. Regulatorischer Rahmen und ökonomische Notwendigkeit
Die rechtliche Grundlage für die Neuordnung der Blindleistungsbeschaffung findet sich unter anderem im Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) sowie in den Festlegungen der Bundesnetzagentur. Ziel ist es, die Beschaffung von Systemdienstleistungen diskriminierungsfrei, transparent und marktorientiert zu gestalten.
2.1 Von der Pflicht zur Vergütung
Historisch betrachtet war die Blindleistungsbereitstellung eine "Nebenpflicht" der Wirkleistungserzeugung. Dies führte jedoch zu Ineffizienzen, da Anlagen zur Blindleistungsbereitstellung oft ihre Wirkleistungseinspeisung drosseln mussten (Opportunitätskosten) oder an ungünstigen Netzknotenpunkten verortet waren. Das neue Marktregime, wie es von 50Hertz pilotiert wird, trennt die Bereitstellung von der reinen Netzanschlussverpflichtung. Es wird anerkannt, dass die Vorhaltung von Blindleistungskapazitäten – insbesondere der dynamischen Blindleistung zur Stützung bei Fehlerfällen – einen wirtschaftlichen Wert darstellt.
Das [EnWG] und europäische Richtlinien forcieren diesen Wandel, um Anreize für Investitionen in Technologien zu schaffen, die das Netz stützen können, ohne zwangsläufig konventionelle Kraftwerke sein zu müssen. Hierbei rücken insbesondere moderne Wechselrichtertechnologien und Batteriespeicher in den Fokus.
3. Fallstudie 50Hertz: Das marktgestützte Beschaffungsmodell
50Hertz hat als einer der ersten ÜNB in Europa Verfahren entwickelt, um Blindleistungspotenziale jenseits der gesetzlichen Mindestanforderungen über transparente Ausschreibungsverfahren zu heben.
3.1 Das Konzept der regionalen Beschaffung
Im Gegensatz zum Wirkleistungsmarkt, der (in der Kupferplatten-Theorie der Gebotszone) deutschlandweit einheitlich funktioniert, ist Blindleistung eine lokal physikalische Größe. Sie lässt sich aufgrund des hohen Spannungsabfalls nicht effizient über weite Strecken transportieren. Das Beschaffungsmodell von 50Hertz adressiert diese Lokalität durch die Definition spezifischer Netzregionen oder Cluster, in denen ein konkreter Blindleistungsbedarf (Q-Bedarf) identifiziert wird.
In diesem Modell konkurrieren verschiedene Anbieter – von Windparks über PV-Freiflächenanlagen bis hin zu Batteriespeichern – um die Bereitstellung. Entscheidend ist hierbei nicht nur der Preis, sondern auch die technische Eignung (z.B. die Fähigkeit zur Bereitstellung von Q bei null Wirkleistung, auch bekannt als STATCOM-Betrieb).
3.2 Struktur der Vergütung
Das Modell unterscheidet typischerweise zwischen zwei Vergütungskomponenten:
- Leistungspreis (Capacity Payment): Eine Vergütung für die Bereitschaft, ein bestimmtes Blindleistungsband über einen definierten Zeitraum (z.B. ein Jahr oder saisonal) zur Verfügung zu halten.
- Arbeitspreis (Energy Payment): Eine Vergütung für den tatsächlichen Abruf der Blindleistung im operativen Betrieb.
Diese Struktur ist essenziell für die Bankability von neuen Projekten, da sie einen fixen Erlösstrom (Leistungspreis) garantiert, der unabhängig von der volatilen Abrufhäufigkeit ist.
4. Implikationen für Speicherbetreiber (BESS) als Systemdienstleister
Für Betreiber von Battery Energy Storage Systems (BESS) eröffnet die marktgestützte Blindleistungsbeschaffung signifikante neue Erlösquellen. Während BESS primär für Arbitragegeschäfte (Intraday/Day-Ahead) und Frequenzhaltung (FCR/aFRR) dimensioniert wurden, gewinnt die lokale Spannungshaltung massiv an Bedeutung.
4.1 Technische Eignung von BESS
Batteriespeicher besitzen durch ihre Leistungselektronik (VSC-Technologie) hervorragende Eigenschaften für die Blindleistungsregelung. Sie können extrem schnell (im Millisekundenbereich) zwischen induktivem und kapazitivem Betrieb wechseln und somit dynamische Spannungseinbrüche stützen.
Ein entscheidender Vorteil gegenüber reinen Erzeugungsanlagen (Wind/PV) ist die Entkoppelung von der Primärenergiequelle. Während ein PV-Park nachts ohne spezielle technische Nachrüstung (Q@Night) keine Blindleistung liefern kann, ist ein BESS rund um die Uhr verfügbar. Diese technische Überlegenheit positioniert BESS als prädestinierte Anbieter im 50Hertz-Modell[^1].
4.2 Revenue Stacking und Opportunitätskosten
Die Integration der Blindleistungsvermarktung in das Geschäftsmodell eines Speichers erfordert komplexe Optimierungsalgorithmen (Revenue Stacking). Die Bereitstellung von Blindleistung reduziert in der Regel die verfügbare Scheinleistungskapazität des Wechselrichters für die Wirkleistung.
Die [Strommarkt]-Analyse zeigt jedoch, dass die Bereitstellung von Blindleistung oft parallel zu anderen Dienstleistungen erfolgen kann, solange der Wechselrichter nicht voll ausgelastet ist. Insbesondere in Zeiten geringer Wirkleistungsnachfrage oder in den "Randstunden" der Arbitrage kann die Blindleistungserbringung ohne nennenswerte Opportunitätskosten erfolgen.
Aktuelle Analysen prognostizieren, dass BESS im Jahr 2025 eine zentrale Rolle für das deutsche Stromnetz spielen werden. Die Flexibilität von Großbatterien wird nicht nur für den Ausgleich von Erzeugungsspitzen (Clipping-Vermeidung bei PV) benötigt, sondern explizit zur Sicherstellung der Netzstabilität in einem System, das zunehmend von volatilen Einspeisern dominiert wird[^1]. Die Bundesnetzagentur und die ÜNBs erkennen zunehmend an, dass der volkswirtschaftliche Nutzen von BESS über die reine Energieverschiebung hinausgeht und systemdienliche Eigenschaften adäquat vergütet werden müssen[^2].
4.3 Wettbewerbsvorteile im 50Hertz-Gebiet
Das Netzgebiet von 50Hertz ist durch eine besonders hohe Penetration erneuerbarer Energien gekennzeichnet. Dies führt zu volatileren Spannungsprofilen als in anderen Regelzonen. Für Speicherbetreiber in Ostdeutschland bedeutet dies:
- Höhere Abrufwahrscheinlichkeiten: Der Bedarf an regelnder Blindleistung ist strukturell höher.
- Lokale Knappheit: In ländlichen Regionen mit viel Windkraft, aber wenig konventioneller Last oder Kraftwerksleistung, können BESS lokale Monopolstellungen oder zumindest eine hohe Marktmacht bei der lokalen Spannungshaltung einnehmen.
5. Herausforderungen und Risiken
Trotz der positiven Aussichten existieren Hürden bei der Implementierung.
- Regulatorische Unsicherheit: Die genauen Ausgestaltungen der Beschaffungsmechanismen unterliegen noch dynamischen Anpassungen durch die Bundesnetzagentur (BNetzA). Investitionsentscheidungen müssen daher robuste Szenarien berücksichtigen.
- Technische Präqualifikation: Die Anforderungen an die Nachweisfführung der PQ-Diagramme und der Regelgeschwindigkeit sind hoch und erfordern präzise Messtechnik und Zertifizierungen.
- Netzanschluss: Die Lokalisierung der Speicher ist entscheidend. Ein BESS an einem Netzknoten ohne Spannungsprobleme wird keine Erlöse aus dem Blindleistungsmarkt generieren können, egal wie leistungsfähig es ist. Die Standortwahl muss daher netzdienliche Aspekte priorisieren (Grid-Serving Placement).
6. Synthese und Ausblick
Die Einführung der marktgestützten Blindleistungsbeschaffung durch 50Hertz markiert einen Wendepunkt in der deutschen Energiewirtschaft. Sie transformiert eine technische Notwendigkeit in ein handelbares Produkt.
Für die akademische Betrachtung und die praktische Projektentwicklung lassen sich folgende Thesen ableiten:
- Entbündelung: Systemdienstleistungen emanzipieren sich von der reinen Wirkleistungserzeugung.
- Technologieoffenheit: Der Marktmechanismus fördert die effizienteste Technologie. Aktuell deutet vieles darauf hin, dass BESS in Kombination mit Grid-Forming-Invertern (bildende Umrichter) die dominierende Rolle übernehmen werden.
- Wirtschaftlichkeit: Für Speicherprojekte ab 2025 wird die Blindleistungskomponente ein essenzieller Bestandteil des "Business Case" sein, der das Risiko volatiler Arbitrage-Erlöse durch stetigere Infrastrukturerlöse hedged.
Wie PwC in einer aktuellen Analyse darlegt, profitiert das deutsche Stromnetz im Jahr 2025 massiv von diesen Entwicklungen, da BESS als "Schweizer Taschenmesser" der Energiewende fungieren – sie glätten nicht nur die Wirkleistungsbilanz, sondern stabilisieren aktiv die Spannung und Frequenz[^1]. Dies erfordert jedoch eine konsequente Weiterentwicklung des [EnWG] und der Netzentgeltsystematik, um Investitionsanreize nicht durch bürokratische Hürden zu konterkarieren[^3].
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Initiative von 50Hertz als Blaupause für die europäische Netzführung dienen kann. Die erfolgreiche Integration von Speichern als primäre Blindleistungsquelle wird die Betriebskosten des Netzes langfristig senken und die Versorgungssicherheit bei steigenden Anteilen erneuerbarer Energien gewährleisten.
Quellenverzeichnis
[^1]: PwC. (2025). Von Wind und Sonne: Wie Deutschlands Stromnetz von BESS im Jahr 2025 profitiert. (Online Blog). Analyse der Rolle von Batteriespeichersystemen (BESS) für die Netzstabilität und Energiewende im Jahr 2025.
[^2]: Bundesnetzagentur. (2024). Festlegung zu den Anforderungen an die Beschaffung von Blindleistung. (BK4-Verfahrensakten). Regulatorische Rahmenbedingungen für die Einführung marktbasierter Beschaffungsinstrumente für Systemdienstleistungen.
[^3]: 50Hertz Transmission GmbH. (2024). Transparenzbericht zur Systemführung und Systemdienstleistungen. Dokumentation der Pilotprojekte zur regionalen Blindleistungsbeschaffung und Anforderungen an technische Einheiten.