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Einführung: Notwendigkeit der Reform des §19 StromNEV

Einführung: Notwendigkeit der Reform des §19 StromNEV

Die Transformation des Energiesystems in Deutschland, getragen von den Zielen der Dekarbonisierung, Dezentralisierung und Digitalisierung, stellt die bestehende Regulierungsarchitektur vor fundamentale Herausforderungen. Ein zentraler Pfeiler dieser Architektur sind die Netzentgelte, die die Kosten für den Betrieb, den Ausbau und die Instandhaltung der Stromnetze decken sollen. Insbesondere die Regelungen des §19 der Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) zur individuellen Netzentgeltreduzierung sind in den Fokus der Kritik geraten und erfordern eine dringende Reform. Die Bundesnetzagentur (BNetzA) hat diese Notwendigkeit erkannt und im Mai 2025 ein umfassendes Festlegungsverfahren zur Reform der allgemeinen Netzentgeltsystematik Strom (AgNeS) eingeleitet sowie ein Diskussionspapier zur Zukunft der Stromnetzentgelte veröffentlicht, das kritische Fragen zur zukünftigen Gestaltung aufwirft[^1], [^2], [^3]. Dieser Abschnitt beleuchtet die Gründe für die geplante Reform der individuellen Netzentgelte und ihre Ziele im Kontext der Energiewende.

1. Die Rolle der Netzentgelte im Stromsystem

Netzentgelte sind ein wesentlicher Bestandteil des Strompreises und dienen der Finanzierung der Infrastruktur, die für den Transport und die Verteilung von Elektrizität notwendig ist. Sie decken die Kosten der Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber für den Bau, den Betrieb und die Wartung der Stromnetze. Ihre Gestaltung hat direkte Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, die Investitionsanreize für dezentrale Erzeugungsanlagen und die Stabilität des gesamten Stromsystems. Ein effizientes und faires Netzentgeltsystem ist daher von entscheidender Bedeutung für das Gelingen der Energiewende.

2. Der Status quo: Individuelle Netzentgelte nach §19 StromNEV

Der §19 StromNEV regelt Ausnahmen von den allgemeinen Netzentgelten. Historisch wurden diese Ausnahmen eingeführt, um energieintensive Unternehmen in Deutschland zu entlasten und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Die Vorschrift unterscheidet im Wesentlichen zwei Arten individueller Netzentgelte:

2.1. §19 Abs. 2 S. 1 StromNEV: Vereinbarung individueller Netzentgelte bei atypischer Netznutzung

Diese Regelung ermöglicht es Letztverbrauchern, die ein atypisches Lastprofil aufweisen und bestimmte Voraussetzungen erfüllen (z.B. hohe Leistungsaufnahme in Schwachlastzeiten oder hohe Laststabilität), individuelle Netzentgelte mit dem Netzbetreiber zu vereinbaren. Das Ziel war, Anreize für eine netzdienliche Verlagerung des Strombezugs in Zeiten geringer Netzauslastung zu schaffen und so den Netzausbau zu verzögern oder zu vermeiden. Die Reduzierung der Netzentgelte erfolgt hierbei im Austausch für ein Verhalten, das zur Entlastung des Netzes beiträgt.

2.2. §19 Abs. 2 S. 2 StromNEV: Vermeidung gleichzeitiger Netzbeanspruchung

Diese Bestimmung erlaubt die Reduzierung der Netzentgelte für Letztverbraucher, die ihren Strombedarf ganz oder teilweise durch Eigenerzeugungsanlagen decken und so die gleichzeitige Inanspruchnahme des Netzes vermeiden. Dies betrifft insbesondere Industrieunternehmen, die beispielsweise über eigene Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen (KWK) oder andere dezentrale Erzeuger verfügen. Die Idee dahinter war, die Netze zu entlasten, da der selbst erzeugte und verbrauchte Strom nicht über das öffentliche Netz transportiert werden muss.

Beide Regelungen führen dazu, dass bestimmte Großverbraucher signifikant geringere Netzentgelte zahlen als andere Verbraucher. Die Differenz wird über eine Umlage, die sogenannte §19 StromNEV-Umlage, auf alle anderen Netznutzer, einschließlich Haushalte und kleinere Unternehmen, umgelegt.

3. Gründe für die Notwendigkeit einer Reform

Die ursprünglich intendierten Ziele des §19 StromNEV werden in der aktuellen Energie- und Marktsituation zunehmend konterkariert. Eine Vielzahl von Faktoren macht eine umfassende Neugestaltung unumgänglich:

3.1. Verzerrungen und Ineffizienzen im System

Die individuellen Netzentgelte führen zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen. Unternehmen mit ähnlichen Lastprofilen oder Eigenerzeugungsanlagen, die die Kriterien des §19 StromNEV nicht exakt erfüllen, sind benachteiligt. Dies schafft Anreize für "Regulierungsarbitrage" statt für echte Effizienzgewinne im Netzbetrieb. Die Komplexität der Antragstellung und die Verhandlung individueller Vereinbarungen bedeuten zudem einen erheblichen administrativen Aufwand für Unternehmen und Netzbetreiber.

3.2. Quersubventionierung und fehlende Kostentransparenz

Die Umlage der entgangenen Netzentgelte auf die übrigen Verbraucher führt zu einer Quersubventionierung. Haushalte und kleinere sowie mittlere Unternehmen (KMU) tragen eine überproportional hohe Last, um die Entlastung energieintensiver Industrien zu finanzieren. Dies widerspricht dem Verursacherprinzip und führt zu einer mangelnden Transparenz der tatsächlichen Netzkosten, was die Akzeptanz des Netzentgeltsystems in der Breite der Gesellschaft mindert. Das Diskussionspapier der BNetzA stellt die Transparenz und Vereinfachung des Systems als zentrale Ziele der Neugestaltung heraus[^1].

3.3. Herausforderungen durch die Energiewende

Die Energiewende verändert die Anforderungen an das Stromnetz grundlegend. Anstatt einer unidirektionalen Stromflussrichtung von zentralen Großkraftwerken zu den Verbrauchern, ist das moderne Netz durch eine Vielzahl dezentraler Erzeuger (Photovoltaik, Windkraft) und eine zunehmende Volatilität der Einspeisung gekennzeichnet.

  • Dezentralisierung und Eigenerzeugung: Während §19 Abs. 2 S. 2 StromNEV ursprünglich Anreize für Eigenerzeugung schaffen sollte, um das Netz zu entlasten, führt die zunehmende Dezentralisierung und Volatilität der Erneuerbaren Energien zu neuen Herausforderungen. Eigenerzeugungsanlagen können zwar die lokale Last senken, aber sie tragen oft nicht zur Entlastung von Engpässen im überregionalen Netz bei oder verschärfen diese sogar, wenn sie zu Zeiten hoher Netzauslastung einspeisen. Die Frage, ob "Einspeiser Netzentgelte zahlen sollen", wie von Oxera in den Raum gestellt, ist ein zentraler Aspekt der Debatte über die zukünftige Netzentgeltgestaltung[^2].
  • Netzengpässe und Redispatch: Die Energiewende führt zu einer Zunahme von Netzengpässen, insbesondere im Norden und Osten Deutschlands, wo viel Windstrom erzeugt, aber nicht immer direkt verbraucht werden kann. Die aktuellen Regelungen des §19 StromNEV berücksichtigen diese dynamischen Netzengpässe nicht ausreichend. Eine Entlastung des Netzes in bestimmten Regionen und zu bestimmten Zeiten ist nicht gleichbedeutend mit einer Entlastung des Gesamtsystems.
  • Sektorenkopplung und Flexibilisierung: Die Integration von Elektromobilität, Wärmepumpen und Power-to-X-Anlagen erhöht die Notwendigkeit flexibler Lasten. Das aktuelle System bietet oft nicht die richtigen Anreize für eine netzdienliche Flexibilisierung, die für die Stabilisierung des Netzes unerlässlich ist.

3.4. Fehlanreize für Standortentscheidungen und Netzausbau

Die individuellen Netzentgelte können zu Fehlanreizen bei der Standortwahl von Unternehmen führen. Ein Unternehmen könnte sich für einen Standort entscheiden, der aus netztechnischer Sicht ungünstig ist, aber durch die Möglichkeit der individuellen Netzentgeltreduzierung finanziell attraktiv wird. Dies kann den Netzausbaubedarf unnötig erhöhen und somit die Kosten für die Allgemeinheit steigern.

3.5. Anpassung an europäische Vorgaben und Marktintegration

Auch auf europäischer Ebene gibt es Bestrebungen, die Netzentgeltsysteme zu harmonisieren und an die Erfordernisse eines integrierten europäischen Strommarktes anzupassen. Nationale Sonderregelungen wie der §19 StromNEV könnten diesen Bemühungen entgegenstehen und die Marktintegration behindern.

4. Ziele der Reform der individuellen Netzentgelte

Die geplante Reform der individuellen Netzentgelte zielt darauf ab, die oben genannten Probleme zu adressieren und ein zukunftsfähiges, effizientes und faires Netzentgeltsystem zu schaffen, das die Energiewende optimal unterstützt. Die BNetzA hat im Rahmen ihres Festlegungsverfahrens und Diskussionspapiers bereits erste Weichenstellungen vorgenommen und die Kernziele formuliert[^1], [^3]:

4.1. Fairere Kostenverteilung und Verursacherprinzip

Ein zentrales Ziel ist die Rückkehr zu einem stärker am Verursacherprinzip orientierten Netzentgeltsystem. Dies bedeutet, dass die Netzkosten möglichst transparent und verursachungsgerecht auf die Netznutzer verteilt werden sollen. Eine Reduzierung der Quersubventionierung von Großverbrauchern durch Haushalte und KMU soll erreicht werden, um die Akzeptanz des Systems zu erhöhen und die finanzielle Belastung für die breite Masse der Verbraucher zu senken.

4.2. Steigerung der Systemeffizienz und Netzdienlichkeit

Die Reform soll Anreize für ein netzdienliches Verbrauchs- und Erzeugungsverhalten schaffen. Dies beinhaltet die Förderung der Flexibilisierung von Lasten, die Nutzung von Speichertechnologien und die Integration von dezentraler Erzeugung in einer Weise, die zur Entlastung des Netzes beiträgt, anstatt neue Engpässe zu schaffen. Netzentgelte sollen nicht nur die Kosten decken, sondern auch als Preissignale dienen, die den Einsatz von Strom in Zeiten geringer Netzauslastung oder hohen erneuerbaren Energieangebots fördern und in Engpasssituationen dämpfen.

4.3. Vereinfachung und Transparenz

Die Komplexität des aktuellen Systems, insbesondere die individuellen Verhandlungen und die Vielzahl von Ausnahmetatbeständen, soll reduziert werden. Ein vereinfachtes und transparenteres Netzentgeltsystem wäre leichter verständlich, administrativer Aufwand würde sinken und die Rechtssicherheit für alle Marktteilnehmer steigen. Das Festlegungsverfahren der BNetzA legt hierauf einen klaren Fokus[^1].

4.4. Förderung der Energiewende und Netzstabilität

Die Reform muss die spezifischen Anforderungen der Energiewende berücksichtigen. Dazu gehört die Integration einer hohen Volatilität erneuerbarer Energien, die Vermeidung von Netzengpässen und die Sicherstellung der Versorgungssicherheit. Die Netzentgelte sollen Investitionen in netzdienliche Technologien und den Netzausbau fördern, wo er notwendig ist, und gleichzeitig die effiziente Nutzung bestehender Infrastrukturen anreizen. Die Diskussion, ob und wie Einspeiser an den Netzkosten beteiligt werden sollen, ist hierbei von großer Relevanz, um die Kosten der Netzintegration besser abzubilden[^2].

4.5. Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit

Auch wenn die ursprüngliche Intention des §19 StromNEV die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit war, soll die Reform diese nicht untergraben, sondern auf eine breitere und nachhaltigere Basis stellen. Dies bedeutet, dass Wettbewerbsfähigkeit nicht durch undurchsichtige Subventionen, sondern durch ein effizientes, stabiles und kostengünstiges Energiesystem erreicht werden soll, das allen Akteuren gleiche Chancen bietet.

5. Diskussionsfelder und mögliche Reformansätze

Die BNetzA hat mit ihrem Diskussionspapier einen breiten Konsultationsprozess eingeleitet, um verschiedene Perspektiven und Reformansätze zu beleuchten[^2]. Mögliche Reformoptionen umfassen:

  • Regionalisierung der Netzentgelte: Eine stärkere Differenzierung der Netzentgelte nach regionalen Gegebenheiten könnte netznahe Anreize für Erzeugung und Verbrauch schaffen und so Engpässe effektiver adressieren.
  • Leistungsbasierte Entgelte: Eine stärkere Gewichtung der Netzentgelte auf die maximale Leistungsinanspruchnahme (Spitzenlast) könnte Anreize zur Lastglättung und zur Investition in Flexibilitätsoptionen bieten.
  • Kapazitäts- und Verfügbarkeitsentgelte: Die Einführung von Entgelten, die die Bereitstellung von Netzreserven oder die Verfügbarkeit von Netzkapazität abbilden, könnte die Systemdienstleistungen besser vergüten.
  • Einbeziehung von Einspeisern: Die Diskussion, ob und in welchem Umfang auch Einspeiser von Strom (z.B. große Erneuerbare-Energien-Anlagen) an den Netzentgelten beteiligt werden sollen, ist ein zentraler Punkt, um die verursachungsgerechte Kostenverteilung zu verbessern[^2].
  • Stärkere Standardisierung: Eine Reduzierung der individuellen Vereinbarungen zugunsten standardisierter, netzdienlicher Tarife könnte die Transparenz und den administrativen Aufwand senken.

Die Reform des §19 StromNEV ist ein komplexes Unterfangen, das einen Ausgleich zwischen den Interessen energieintensiver Industrien, der breiten Masse der Verbraucher und den Erfordernissen der Energiewende finden muss. Es erfordert eine sorgfältige Abwägung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Auswirkungen. Die Ergebnisse des BNetzA-Festlegungsverfahrens werden maßgeblich die zukünftige Gestaltung der Netzentgelte in Deutschland prägen und hoffentlich ein Fundament für ein robustes und zukunftsfähiges Energiesystem legen [weitere Informationen zur AgNeS-Reform in Kapitel Y].

Fazit

Die individuellen Netzentgelte nach §19 StromNEV, einst als Instrument zur Entlastung energieintensiver Industrien und zur Förderung netzdienlichen Verhaltens konzipiert, haben sich im Zuge der Energiewende zu einem System entwickelt, das zunehmend Ineffizienzen, Quersubventionierungen und Fehlanreize verursacht. Die Gründe für eine Reform sind vielfältig und reichen von der Notwendigkeit einer faireren Kostenverteilung über die Anpassung an die dynamischen Herausforderungen der Dezentralisierung und Volatilität erneuerbarer Energien bis hin zur Steigerung der Transparenz und Effizienz des Gesamtsystems. Die von der Bundesnetzagentur eingeleiteten Konsultationsprozesse und das Diskussionspapier sind entscheidende Schritte, um die Netzentgeltsystematik grundlegend zu überarbeiten und sie fit für die Anforderungen eines modernen, dekarbonisierten und digitalisierten Energiesystems zu machen. Ziel ist es, ein System zu schaffen, das nicht nur die notwendigen Netzkosten deckt, sondern auch die richtigen Signale für Investitionen, Betrieb und Verbrauch setzt, um die Energiewende erfolgreich und kostenoptimiert voranzutreiben. [siehe auch Kapitel X: Grundlagen der Netzentgelte und ihre ökonomischen Implikationen].


Quellenverzeichnis

[^1]: IHK Nordschwarzwald. (2025). BNetzA Konsultation zu Netzentgelten. (News vom 12.05.2025). Die Bundesnetzagentur hat das Festlegungsverfahren zur Reform der allgemeinen Netzentgeltsystematik Strom (AgNeS) eingeleitet. Ziel ist eine umfassende Neugestaltung des bestehenden Systems – mit Fokus auf Transparenz, Vereinfachung und Effizienz. Verfügbar unter: https://www.ihk.de/nordschwarzwald/innovationn/umweltschutz-umwelt-akademie/energie-und-klimaschutz/news-energie-ressourcen-klimaschutz/bnetza-konsultation-zu-netzentgelten-6561304 [Abgerufen am 18.11.2025].

[^2]: Oxera. (2025). Reform der deutschen Stromnetzentgeltsystematik: Sollen Einspeiser Netzentgelte zahlen?. (Agenda Artikel vom 11.07.2025). Die Bundesnetzagentur (BNetzA) hat im Mai 2025 ein Diskussionspapier über die Zukunft der Stromnetzentgelte in Deutschland veröffentlicht. Das Papier stellt kritische Fragen zur zukünftigen Netzentgeltgestaltung, insbesondere hinsichtlich der Rolle von Einspeisern. Verfügbar unter: https://www.oxera.com/de/insights/agenda/articles/reform-der-deutschen-stromnetzentgeltsystematik-sollen-einspeiser-netzentgelte-zahlen/ [Abgerufen am 18.11.2025].

[^3]: Bundesnetzagentur (BNetzA). (2025). Festlegungsverfahren zur Reform der allgemeinen Netzentgeltsystematik Strom (AgNeS) und Diskussionspapier zur Zukunft der Stromnetzentgelte. Die BNetzA hat im Mai 2025 ein umfassendes Festlegungsverfahren eingeleitet und ein Diskussionspapier zur Neugestaltung der Netzentgelte veröffentlicht, um das System transparenter und effizienter zu gestalten und an die Herausforderungen der Energiewende anzupassen. (Synthetisiert aus Informationen von [^1] und [^2]).