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Auswirkungen auf Industriestrompreise und Wettbewerb

Auswirkungen auf Industriestrompreise und Wettbewerb

1. Strukturwandel der Netzentgeltsystematik und industrielle Kostenbasis

Die Transformation des deutschen Energiesystems hin zu einer volatilen, auf erneuerbaren Energien basierenden Erzeugungsstruktur erzwingt eine fundamentale Neuausrichtung der Entgeltstrukturen für die Netznutzung. Für energieintensive Industrien, deren Wettbewerbsfähigkeit traditionell eng mit der Verfügbarkeit von günstigem Grundlaststrom und privilegierten Netzentgelten (insbesondere gemäß § 19 Abs. 2 StromNEV) verknüpft war, stellt dieser Paradigmenwechsel eine signifikante ökonomische Herausforderung dar.

1.1 Vom Bandlastprivileg zur Flexibilitätsprämie

Historisch begünstigte das deutsche Regulierungsregime (Stromnetzentgeltverordnung) industrielle Abnehmer, die ein konstantes Abnahmeverhalten (Bandlast) aufwiesen. Die Logik basierte auf der Annahme, dass konstante Lasten die Netzplanung vereinfachen und die Auslastung stabilisieren. In einem durch Wind- und Photovoltaik dominierten System (bis 2035 wird eine weitgehende Dekarbonisierung angestrebt) verliert die starre Bandlast jedoch an Systemdienlichkeit. Phasen negativer Residualflast wechseln sich mit Zeiten ab, in denen fossile Back-up-Kraftwerke die Versorgung sichern müssen.

Die neuen Entgeltstrukturen, die derzeit durch Reformprozesse der Bundesnetzagentur (BNetzA) – etwa im Kontext der Festlegung zu Netzentgelten (NEST) – diskutiert werden, zielen darauf ab, Anreize für dienliches Verbrauchsverhalten zu setzen. Das bedeutet konkret:

  1. Zeitvariable Tarife: Netzentgelte variieren stärker in Abhängigkeit von der aktuellen Netzbelastung und dem lokalen Dargebot erneuerbarer Energien.
  2. Reduktion pauschaler Befreiungen: Die bedingungslose Reduzierung der Netzentgelte bei Erreichen von 7.000 Benutzungsstunden wird sukzessive durch Mechanismen ersetzt, die eine Reaktion auf Preissignale belohnen.

Für die Industrie bedeutet dies, dass die reinen Energiekosten ("Energy-only") zwar durch den Ausbau der Erneuerbaren tendenziell sinken können (Merit-Order-Effekt), die systemischen Zusatzkosten (Netzentgelte, Umlagen zur Finanzierung von Reservekapazitäten) jedoch bei starrem Verbrauchsverhalten ansteigen.

1.2 Integration in die Investitionsplanung

Die Volatilität der Strompreise und die Umstrukturierung der Netzentgelte erhöhen die Komplexität der Investitionsplanung (CAPEX). Unternehmen müssen in ihren Wirtschaftlichkeitsberechnungen nicht mehr nur einen statischen Strompreis prognostizieren, sondern Szenarien für Flexibilitätserlöse und Risikoprämien für Preisspitzen (Peaks) integrieren. Siehe Kapitel: Investitionsrechnung unter Unsicherheit.

Die Bundesnetzagentur bestätigt in ihren aktuellen Analysen, dass die Versorgungssicherheit auch in einem stark transformierten System gewährleistet bleibt. Der Bericht zur Versorgungssicherheit Strom 2025 analysiert Szenarien bis 2035 und kommt zu dem Schluss, dass die Deckung der Last jederzeit gesichert ist, sofern der Netzausbau und der Zubau flexibler Erzeugungskapazitäten plangemäß voranschreiten [^1]. Dies ist ein entscheidendes Signal für den Industriestandort, da physische Versorgungssicherheit die conditio sine qua non für industrielle Großinvestitionen darstellt.

2. Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Kontext

Die Debatte um den "Industriestrompreis" ist im Kern eine Debatte um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie. Während in anderen Wirtschaftsräumen (z.B. USA, China) Energiepreise oft durch direkte Subventionen oder geringere CO2-Bepreisung niedrig gehalten werden, sieht sich die deutsche Industrie einem doppelten Transformationsdruck ausgesetzt: Dekarbonisierung der Prozesse bei gleichzeitig steigenden systemischen Stromnebenkosten.

2.1 Differenzierung nach Branchen

Die Auswirkungen der neuen Entgeltstrukturen sind heterogen:

  • Elektrolyse und Power-to-Heat: Diese Technologien profitieren massiv von volatilen Preisen und dynamischen Netzentgelten, da sie ihre Produktion in Zeiten niedriger Preise und geringer Netzbelastung hochfahren können.
  • Klassische Grundstoffindustrie (Chemie, Stahl, Glas): Prozessbedingte Restriktionen erlauben hier oft nur eine geringe Flexibilität. Ohne Anpassung der Lastprofile drohen diesen Sektoren durch den Wegfall von Bandlastprivilegien signifikante Kostensteigerungen, die im globalen Wettbewerb nicht vollständig überwälzbar sind.

2.2 Bedeutung der Versorgungssicherheit

Ein oft unterschätzter Faktor der Wettbewerbsfähigkeit ist die Zuverlässigkeit des Netzes. Ein niedriger Strompreis ist wertlos, wenn die Produktionsqualität durch Frequenzschwankungen oder Versorgungsunterbrechungen leidet. Die Bundesregierung hat am 03. September den Bericht der Bundesnetzagentur beschlossen, der bestätigt, dass auch bei einem beschleunigten Kohleausstieg und steigendem Strombedarf (Elektrifizierung von Wärme und Verkehr) die Versorgungssicherheit auf einem international sehr hohen Niveau bleibt [^1]. Diese Stabilität rechtfertigt teilweise höhere Systemkosten im Vergleich zu Märkten mit geringerer Versorgungsqualität.

3. Strategien zur Anpassung: Beschaffung und Lastmanagement

Um unter den neuen Rahmenbedingungen wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Industrieunternehmen ihre Energiestrategie von einer reinen Beschaffungsoptimierung hin zu einem integrierten Flexibilitätsmanagement entwickeln.

3.1 Demand Side Management (DSM)

Das Lastmanagement (DSM) wandelt sich von einer Nischenanwendung (z.B. Abschaltverordnung) zu einem zentralen Element der Betriebskostenoptimierung.

  • Prozessflexibilisierung: Identifikation von Produktionsschritten, die zeitlich verschoben oder in ihrer Intensität variiert werden können (z.B. Mühlen, Öfen mit thermischer Trägheit, Elektrolyseure).
  • Automatisierung: Implementierung von Energiemanagementsystemen (EMS), die in Echtzeit auf Preissignale der Strombörse (Spotmarkt) und Signale der Verteilnetzbetreiber reagieren.

Durch die aktive Vermarktung von Flexibilität – etwa durch Teilnahme am Regelenergiemarkt oder Nutzung dynamischer Netzentgelte – können Unternehmen ihre effektiven Stromkosten signifikant senken und so die Mehrbelastungen kompensieren.

3.2 Power Purchase Agreements (PPAs)

Neben der Flexibilisierung spielt die langfristige Preisabsicherung eine entscheidende Rolle. Green Power Purchase Agreements (PPAs) ermöglichen es Unternehmen, Strom direkt von Erzeugern erneuerbarer Energien zu beziehen. Dies bietet zwei Vorteile:

  1. Preissicherheit: Langfristig fixierte Preise entkoppeln das Unternehmen teilweise von den Schwankungen der fossilen Brennstoffmärkte.
  2. Nachweis der Dekarbonisierung: PPAs sind ein zentrales Instrument zur Erfüllung von ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance).

Die Strukturierung solcher Verträge erfordert jedoch eine genaue Analyse des eigenen Lastprofils ("Load Shape") im Vergleich zum Erzeugungsprofil ("Generation Shape") der EE-Anlage. Siehe Kapitel: Risikomanagement in der Energiebeschaffung.

3.3 Eigenerzeugung und Speicherlösungen

Die Installation von "Behind-the-Meter"-Lösungen, wie Photovoltaikanlagen auf Werksdächern oder industrielle Batteriespeicher, gewinnt durch die neuen Entgeltstrukturen an Attraktivität. Speicher dienen nicht mehr nur der unterbrechungsfreien Stromversorgung (USV), sondern dem "Peak Shaving" (Kappung von Lastspitzen), um Netzentgelte zu reduzieren, und der Optimierung des Eigenverbrauchs.

Der Bericht der Bundesnetzagentur unterstreicht die Notwendigkeit solcher dezentralen Flexibilitätsoptionen, um das Gesamtsystem bis 2035 stabil zu halten [^1]. Unternehmen, die frühzeitig in diese Technologien investieren, sichern sich gegen regulatorische Risiken ab.

4. Fazit und Ausblick

Die Ära der statischen Energiebeschaffung ist beendet. Der Industriestrompreis wird zukünftig nicht mehr als fixe Größe, sondern als Ergebnis einer komplexen Interaktion aus Börsenpreis, Netznutzungsverhalten und Flexibilitätsvermarktung zu verstehen sein. Die neuen Entgeltstrukturen belohnen Systemdienlichkeit und bestrafen Inflexibilität.

Für die Industrie bedeutet dies:

  1. Transparenz schaffen: Detaillierte Erfassung und Analyse der Lastgänge.
  2. Flexibilität heben: Technische und organisatorische Potenziale zur Lastverschiebung nutzen.
  3. Portfolio diversifizieren: Kombination aus Spotmarkt-Beschaffung, PPAs und Eigenerzeugung.

Während die Übergangsphase Risiken birgt, bestätigen die Analysen der Bundesnetzagentur, dass das fundamentale Ziel – eine sichere und treibhausgasneutrale Versorgung – erreichbar ist [^2]. Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen wird maßgeblich davon abhängen, wie schnell sie ihre Prozesse an diese neue energiewirtschaftliche Realität anpassen können.

Quellenverzeichnis

[^1]: SmartGridsBW / Bundesnetzagentur. (2025). Bericht der Bundesnetzagentur zur Versorgungssicherheit Strom 2025. (Veröffentlicht am 21.11.2025). Der Bericht analysiert Szenarien bis 2035 und bestätigt die Versorgungssicherheit im deutschen Strommarkt unter Berücksichtigung des Kohleausstiegs und Lastanstiegs. Verfügbar unter: https://smartgrids-bw.net/news/bericht-der-bundesnetzagentur-zur-versorgungssicherheit-strom-2025/

[^2]: Bundesnetzagentur. (2024). Bericht nach § 63 EnWG zur Versorgungssicherheit im Bereich der leitungsgebundenen Versorgung mit Elektrizität. Dieser Bericht bildet die fachliche Grundlage für die Bewertung der langfristigen Kapazitäts adequacy und wurde durch die Bundesregierung bestätigt.

[^3]: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK). (2024). Strompreispaket für die energieintensive Industrie. Maßnahmenpaket zur Dämpfung der Stromkosten, einschließlich der Senkung der Stromsteuer und der Ausweitung der Strompreiskompensation zur Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.


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