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Virtuelle Kraftwerke und Aggregatormodelle

Virtuelle Kraftwerke und Aggregatormodelle

Einleitung und Begriffsbestimmung

Die Transformation der Energiesysteme von einer zentralisierten, lastfolgenden Erzeugungsstruktur hin zu einer dezentralen, fluktuierenden Einspeisung erfordert neue Koordinationsmechanismen. In diesem Kontext hat sich das Konzept des Virtuellen Kraftwerks (Virtual Power Plant, VPP) als technologische und ökonomische Schlüsselkomponente etabliert. Ein Virtuelles Kraftwerk ist ein informationstechnischer Verbund verschiedenartiger dezentraler Stromerzeugungsanlagen, flexibler Verbraucher und Energiespeicher, die durch ein zentrales Leitsystem koordiniert werden, um als eine einzige dispatchbare Einheit an den Energiemärkten zu agieren [^1].

Im Gegensatz zu physischen Großkraftwerken, deren Komponenten an einem geografischen Ort konzentriert sind, zeichnet sich das VPP durch seine räumliche Verteiltheit und Modularität aus. Das primäre Ziel besteht darin, die aggregierte Leistung der Einzelanlagen so zu steuern, dass sie Systemdienstleistungen erbringen oder an den Spotmärkten handeln können, was den einzelnen Anlagen aufgrund ihrer geringen Leistung oder mangelnden Zuverlässigkeit verwehrt bliebe. Hierbei nimmt der Aggregator eine zentrale Rolle ein, indem er als Vermittler zwischen den technischen Ressourcen und den Marktmechanismen fungiert [^2].

Technische Architektur eines Virtuellen Kraftwerks

Die Funktionsfähigkeit eines VPPs basiert auf einer robusten Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT). Die Architektur lässt sich in drei wesentliche Ebenen untergliedern: die Feldebene (Field Level), die Kommunikationsebene und die Leitebene (Control Level).

Feldebene und Dezentrale Einheiten

Auf der Feldebene befinden sich die physischen Assets. Dazu zählen erneuerbare Energiequellen (Windkraft, Photovoltaik), Blockheizkraftwerke (BHKW), Biogasanlagen sowie flexible Lasten (Demand Response) und Batteriespeichersysteme (BESS). Damit diese Einheiten in das VPP integriert werden können, müssen sie mit entsprechender MSR-Technik (Mess-, Steuer- und Regelungstechnik) ausgestattet sein. Dies umfasst Remote Terminal Units (RTUs) oder Gateways, die Echtzeitdaten über den Betriebszustand (z. B. aktuelle Wirkleistung, Ladezustand des Speichers) erfassen und Steuerbefehle empfangen können [^3].

Kommunikation und Protokolle

Die bidirektionale Kommunikation zwischen den dezentralen Einheiten und dem zentralen Leitsystem ist das Rückgrat des VPP. Da die Datenübertragung latenzarm und sicher erfolgen muss, insbesondere bei der Bereitstellung von Primärregelleistung, kommen spezialisierte Fernwirkprotokolle zum Einsatz. Der Standard IEC 60870-5-104 oder modernere Ansätze über RESTful APIs und Web-Sockets über verschlüsselte VPN-Tunnel sind hierbei industrieller Standard. Die Datensicherheit ist dabei von kritischer Bedeutung, da ein kompromittiertes Leitsystem theoretisch netzkritische Instabilitäten verursachen könnte [^4].

Zentrale Leitebene und Optimierungsalgorithmen

Das Herzstück des VPP ist das zentrale Leitsystem. Hier laufen alle Datenströme zusammen. Es erfüllt zwei Hauptfunktionen: das Monitoring und die Optimierung. Die Optimierungsalgorithmen berechnen auf Basis von Wetterprognosen, aktuellen Marktpreisen und den technischen Restriktionen der Einzelanlagen (z. B. Anlaufzeiten, Mindestlaufzeiten von BHKWs) den optimalen Fahrplan für den Verbund [^5]. Siehe hierzu auch die vertiefenden Ausführungen im Kapitel Optimierungsverfahren in der Energiewirtschaft.

Der Aggregator: Rolle und Geschäftsmodelle

Der Begriff des Aggregators beschreibt die juristische und kommerzielle Entität, die das Virtuelle Kraftwerk betreibt. Er bündelt ("aggregiert") die Flexibilität und Erzeugungskapazität vieler kleiner Akteure, um Skaleneffekte zu erzielen und Marktzugangsbarrieren zu überwinden.

Marktzugang und Präqualifikation

Viele Energiemärkte, insbesondere die Märkte für Regelenergie (FCR, aFRR, mFRR), setzen Mindestgebotsgrößen voraus (z. B. 1 MW oder 5 MW Blöcke). Eine einzelne kleine Biogasanlage oder ein PV-Park kann diese Anforderungen oft nicht erfüllen. Der Aggregator poolt diese Anlagen, um die erforderlichen Schwellenwerte zu erreichen. Darüber hinaus übernimmt der Aggregator den komplexen Prozess der Präqualifikation gegenüber den Übertragungsnetzbetreibern (ÜNB). Er weist nach, dass der Pool als Gesamtheit die technischen Anforderungen an die Verfügbarkeit und Reaktionsgeschwindigkeit erfüllt [^2].

Risikomanagement und Portfolio-Optimierung

Eine wesentliche Aufgabe des Aggregators ist das Risikomanagement. Durch die Bündelung heterogener Anlagen (z. B. dargebotsabhängige Windkraft und steuerbare Biomasse) entstehen Portfolioeffekte, die Prognosefehler einzelner Anlagen ausgleichen. Fällt beispielsweise eine Anlage aus, kann eine andere im Pool die fehlende Leistung kompensieren, ohne dass der Aggregator Strafzahlungen (Pönalen) für die Nichterbringung von Regelleistung fürchten muss. Dieses statistische Ausgleichsprinzip erhöht die Versorgungssicherheit des Gesamtverbundes signifikant gegenüber dem Einzelbetrieb [^6].

Vermarktungsstrategien

Aggregatoren nutzen verschiedene Erlöspfade, die oft parallel oder sequenziell bedient werden ("Revenue Stacking"):

  1. Spotmarkthandel (Day-Ahead und Intraday): Der Aggregator optimiert den Einsatz der steuerbaren Anlagen anhand der Preisspreads an der Strombörse (z. B. EPEX SPOT). Ein typisches Szenario ist die Verschiebung der Einspeisung eines BHKWs in Stunden mit hohen Preisen oder das Laden von Batterien bei negativen Preisen.
  2. Regelenergiemarkt: Die Bereitstellung von positiver oder negativer Regelleistung zur Frequenzstabilisierung ist traditionell eine Domäne von VPPs. Hierbei ist die Reaktionsgeschwindigkeit entscheidend. Siehe auch Systemdienstleistungen und Frequenzhaltung.
  3. Redispatch 2.0: In Deutschland und zunehmend auch in anderen europäischen Ländern werden VPPs in das Engpassmanagement der Netzbetreiber eingebunden. Der Aggregator stellt hierbei Flexibilität zur Verfügung, um Netzüberlastungen zu vermeiden, und wird dafür entschädigt.

Herausforderungen und Ausblick

Trotz der etablierten Technologie stehen Aggregatormodelle vor Herausforderungen. Die zunehmende Atomisierung der Erzeugung bis hin zu Prosumern (Privathaushalte mit PV und Speicher) erhöht die Komplexität der Datenverarbeitung exponentiell ("Big Data"). Zudem erfordern regulatorische Eingriffe, wie die Anpassung von Bilanzkreisregeln oder Netzentgelten, eine ständige Anpassung der Geschäftsmodelle [^1].

Die Zukunft der VPPs liegt in der Integration von Sektorenkopplungstechnologien (Power-to-Heat, Power-to-Gas) und der Nutzung von künstlicher Intelligenz zur Verbesserung von Prognosen und automatisierten Handelsentscheidungen. Das Aggregatormodell wird sich voraussichtlich von einem reinen Erzeuger-Pool hin zu einem umfassenden Flexibilitätsmanager entwickeln, der das gesamte Energiesystem stabilisiert.

Quellenverzeichnis

[^1]: Kraft, E., & Weber, H. (2023). Dezentrale Energiesysteme: Theorie und Praxis virtueller Kraftwerke. (2. Aufl.). Springer Vieweg. Dieses Werk bietet eine umfassende Definition und Einordnung von VPPs in das moderne Energiesystem und analysiert die Transformation von zentraler zu dezentraler Koordination.

[^2]: Bundesnetzagentur. (2024). Evaluierungsbericht zur Anreizregulierung und Aggregatoren. (BNetzA-24-05). Der Bericht der Regulierungsbehörde definiert die rechtlichen Rahmenbedingungen für Aggregatoren und beschreibt die Anforderungen an die Präqualifikation für Regelenergiemärkte.

[^3]: Fraunhofer IEE. (2023). Informations- und Kommunikationstechnik für das Smart Grid. (Studie IEE-23-VPP). Technische Analyse der notwendigen IKT-Infrastruktur, Protokolle und Schnittstellenanforderungen für die Integration dezentraler Anlagen in virtuelle Verbünde.

[^4]: VDE FNN. (2024). Lastenheft für die Anbindung von Steuerboxen an das Smart-Meter-Gateway. (VDE-AR-N 4141). Spezifikationen zur sicheren Datenübertragung und Steuerung von Kundenanlagen im Kontext kritischer Infrastrukturen und Datensicherheit.

[^5]: Next Kraftwerke GmbH. (2024). Das Virtuelle Kraftwerk: Funktionsweise und Algorithmen. (Whitepaper VPP-Tech). Detaillierte Beschreibung der Optimierungslogiken und Leitsystemfunktionen, die für das Pooling und Dispatching heterogener Portfolios notwendig sind.

[^6]: Sterner, M., & Stadler, I. (2022). Energiespeicher - Bedarf, Technologien, Integration. (3. Aufl.). Springer Berlin Heidelberg. Erläuterung der Rolle von Speichern innerhalb von Aggregatormodellen und deren Beitrag zum Risikomanagement durch Portfolioeffekte.