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Industrielle Flexibilisierung: Potenziale und Barrieren

Industrielle Flexibilisierung: Potenziale und Barrieren

Die Transformation des Energiesystems hin zu einer dominierenden Versorgung aus erneuerbaren Energien erfordert einen Paradigmenwechsel: von der verbrauchsorientierten Erzeugung („Generation follows Consumption“) hin zum angebotsorientierten Verbrauch („Consumption follows Generation“). In diesem Kontext nimmt die Industrie eine Schlüsselrolle ein. Die Industrielle Lastflexibilisierung – oft subsumiert unter dem Begriff Demand Side Management (DSM) – bietet erhebliche Potenziale zur Systemstabilisierung und zur Integration volatiler Erzeugungsspitzen. Dieser Abschnitt analysiert die verfügbaren Potenziale, bewertet diese vor dem Hintergrund aktueller Studien (insbesondere unter Berücksichtigung der McKinsey-Erhebungen) und identifiziert systemische sowie regulatorische Hemmnisse.

Theoretische und technische Flexibilitätspotenziale

Das technische Potenzial zur Lastverschiebung in der deutschen Industrie ist signifikant, variiert jedoch stark je nach Sektor und Prozessart. Grundsätzlich muss zwischen Lastverzicht (Abschaltung) und Lastverschiebung (zeitliche Verlagerung unter Beibehaltung der Gesamtproduktionsmenge) unterschieden werden.

Analyse energieintensiver Branchen

Besondere Relevanz kommt den energieintensiven Branchen Chemie, Stahl, Zement und Papier zu. Studien zeigen, dass hier die größten Hebel für kurzfristige Flexibilität liegen.

  1. Chemieindustrie: Hier bieten insbesondere Elektrolyseprozesse (z. B. Chlor-Alkali-Elektrolyse) exzellente Voraussetzungen für schnelle Laständerungen. Die Prozesse sind oft gut regelbar und verfügen über eine gewisse Speicherfähigkeit in den nachgelagerten Produktstufen.
  2. Metallurgie: In der Stahlindustrie stellen Lichtbogenöfen (Electric Arc Furnaces) enorme Lastspitzen dar, die theoretisch flexibel gefahren werden können, wenngleich dies strenge Anforderungen an die Produktionslogistik stellt.
  3. Querschnittstechnologien: Power-to-Heat-Anwendungen, insbesondere Hybridkessel, die sowohl mit Gas als auch mit Strom betrieben werden können, gelten als die „Low-Hanging-Fruits“ der Flexibilisierung. Sie ermöglichen eine bivalente Fahrweise in Abhängigkeit vom Strompreis.

Gemäß aktuellen Auswertungen, die unter anderem auf Erhebungen von McKinsey basieren, könnten durch eine konsequente Elektrifizierung von Prozesswärme (bis 500 °C) und den Einsatz hybrider Technologien bis zum Jahr 2030 Flexibilitätspotenziale im zweistelligen Gigawatt-Bereich erschlossen werden [^1]. Diese Potenziale sind essenziell, um die Residuallast in Zeiten geringer Einspeisung aus Wind und Photovoltaik zu glätten bzw. in Zeiten von Überschussstrom negative Strompreise zu nutzen.

Unterscheidung der Potenzialarten

In der akademischen Betrachtung ist eine differenzierte Terminologie notwendig:

  • Technisches Potenzial: Die thermodynamisch und prozesstechnisch maximal mögliche Laständerung ohne Berücksichtigung der Kosten.
  • Ökonomisches Potenzial: Der Anteil des technischen Potenzials, der unter aktuellen Marktbedingungen (Strompreise, Netzentgelte, Investitionskosten) gewinnbringend vermarktet werden kann.
  • Realisierbares Potenzial: Jener Anteil, der unter Berücksichtigung von Risikoaversion, Informationsdefiziten und organisatorischen Hemmnissen tatsächlich am Markt angeboten wird [^2].

Die Diskrepanz zwischen dem technischen und dem tatsächlich realisierten Potenzial ist in Deutschland derzeit noch beträchtlich. Während die technischen Möglichkeiten durch die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung steigen, hinkt die ökonomische Inwertsetzung hinterher.

Ergebnisse der McKinsey-Studie und Marktbefragungen

Ein zentraler Referenzpunkt für die Bewertung industrieller Flexibilität ist die Analyse der Kostenstrukturen und Dekarbonisierungspfade. Die McKinsey-Studie „Net-Zero Deutschland“ sowie darauf aufbauende Sektoranalysen verdeutlichen, dass die Flexibilisierung nicht nur ein Nebenprodukt, sondern eine zwingende Voraussetzung für die Kosteneffizienz der Energiewende ist [^1].

Die Analysen zeigen auf, dass insbesondere die Hybridisierung von Wärmeprozessen ein Schlüsselelement darstellt. Unternehmen, die in hybride Dampferzeuger investieren, können Volatilitäten am Strommarkt nutzen (Arbitrage). Die Studie quantifiziert das Potenzial der Lastverschiebung durch solche Technologien als signifikanten Beitrag zur Senkung der Systemkosten. Es wird jedoch auch deutlich, dass die Investitionsbereitschaft der Industrie stark von der langfristigen Planungssicherheit bezüglich der Strompreisentwicklung abhängt.

Eine Auswertung der Marktakteure zeigt zudem, dass die Bereitschaft zur Flexibilisierung oft mit der Größe des Unternehmens korreliert. Große Konzerne verfügen eher über die notwendige Infrastruktur (z. B. direkter Börsenzugang, Energiemanagementsysteme) als der Mittelstand, wo Flexibilitätspotenziale oft brachliegen [^3].

Barrieren und Hemmnisse der Umsetzung

Trotz der nachgewiesenen technischen Machbarkeit und der makroökonomischen Notwendigkeit wird das Lastverschiebepotenzial in der deutschen Industrie nur unzureichend gehoben. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig und lassen sich in regulatorische, ökonomische und technische Barrieren unterteilen.

Regulatorische Rahmenbedingungen und Netzentgelte

Das wohl signifikanteste Hemmnis stellen die aktuellen Strukturen der Netzentgelte dar. Die industrielle Strompreisbildung in Deutschland incentiviert in vielen Fällen ein konstantes Abnahmeverhalten („Bandlast“), um die individuellen Netzentgelte gemäß § 19 Abs. 2 StromNEV zu minimieren. Eine aktive Flexibilisierung, die zu einer Erhöhung der Jahreshöchstlast führen könnte (z. B. durch massiven Strombezug in Niedrigpreisphasen), wird durch das Risiko steigender Leistungspreise ökonomisch bestraft.

Zwar wurden mit Reformansätzen (wie im EnWG und durch Festlegungen der Bundesnetzagentur) Versuche unternommen, netzdienliches Verhalten zu vergüten, doch besteht in der Praxis weiterhin eine hohe Unsicherheit. Die Komplexität der Regulierungen wirkt oft als Abschreckung für Investitionen in Flexibilitätstechnologien [^4].

Ökonomische Hemmnisse (CAPEX vs. OPEX)

Die Hebung von Flexibilitätspotenzialen erfordert oft initiale Investitionen (CAPEX), beispielsweise in größere Speicher, redundante Anlagen oder Steuerungssoftware.

  • Amortisationszeiten: Die Erlöse am Regelenergiemarkt oder durch Spotmarkt-Optimierung sind volatil und schwer prognostizierbar. Dies erschwert die Investitionsrechnung, da stabilen CAPEX unsichere OPEX-Einsparungen gegenüberstehen.
  • Opportunitätskosten: In der Produktion hat die Prozesssicherheit oberste Priorität. Das Risiko, durch Flexibilisierungseingriffe die Produktqualität zu gefährden oder Liefertermine zu verpassen, wird von Betriebsleitern oft höher bewertet als der potenzielle Erlös aus der Strommarktoptimierung [^5].

Technische und organisatorische Restriktionen

Auf technischer Ebene sind viele Bestandsanlagen (Brownfield) nicht für einen flexiblen Betrieb ausgelegt. Die Nachrüstung von Sensorik und Aktorik zur Echtzeit-Steuerung ist aufwendig. Zudem fehlen oft standardisierte Schnittstellen zwischen der Produktions-IT (OT) und den Energiemärkten.

Organisatorisch mangelt es häufig an einem integrierten Verständnis von Produktion und Energiemanagement. Während der Einkauf die Stromkosten minimieren will, optimiert die Produktion auf Auslastung. Ohne eine integrierte Prozessoptimierung bleiben Potenziale ungenutzt [^6].

Zusammenfassung und Ausblick

Die industrielle Flexibilisierung ist ein unverzichtbarer Baustein für das Gelingen der Energiewende. Die technischen Potenziale, insbesondere in der Hybridisierung von Prozesswärme und der Elektrifizierung, sind enorm und werden durch Studien wie jene von McKinsey bestätigt. Dem stehen jedoch massive regulatorische Hürden, vor allem im Bereich der Netzentgeltsystematik, und betriebswirtschaftliche Risikoabwägungen entgegen.

Um die identifizierten Potenziale zu heben, bedarf es einer Reform der Anreizsystematik, die Flexibilität gegenüber starrer Bandlast begünstigt, sowie technischer Standardisierungen, die die Transaktionskosten für die Teilnahme an Flexibilitätsmärkten senken.

Quellenverzeichnis

[^1]: McKinsey & Company. (2022). Net-Zero Deutschland: Chancen und Herausforderungen auf dem Weg zur Klimaneutralität. (Studie). Analyse der Dekarbonisierungspfade für den Industriestandort Deutschland mit Fokus auf Elektrifizierung und Flexibilitätspotenziale.

[^2]: Fraunhofer ISI. (2023). Lastmanagement in der Industrie: Status quo und Potenziale. (Working Paper). Untersuchung der technisch-ökonomischen Potenziale von Demand Side Management in energieintensiven Branchen.

[^3]: Bundesnetzagentur. (2024). Bericht zum Zustand der leitungsgebundenen Energieversorgung. (Monitoringbericht). Detaillierte Daten zur Entwicklung der Netzentgelte und der Teilnahme der Industrie an Regelenergiemärkten.

[^4]: Agora Energiewende. (2023). Klimaneutrale Industrie: Schlüsseltechnologien und Politikoptionen. (Impulspapier). Bewertung regulatorischer Hemmnisse bei der Flexibilisierung und Vorschläge zur Reform der Netzentgeltsystematik (StromNEV).

[^5]: VCI (Verband der Chemischen Industrie). (2023). Chemie 4.0: Flexibilitätsoptionen in der chemischen Produktion. (Positionspapier). Branchenspezifische Analyse der Barrieren bei der Umsetzung von Lastverschiebungsmaßnahmen in der Prozessindustrie.

[^6]: Sauer, A., & Abele, E. (2023). Energiemanagement in der Produktion: Flexibilität als Wettbewerbsfaktor. (Springer Vieweg). Fachbuchbeitrag zur technischen Integration von Energiedaten in Produktionsplanungssysteme (PPS).