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Digitale Zwillinge und Netzzustandsprognosen

Digitale Zwillinge und Netzzustandsprognosen

Einleitung und Relevanz im modernen Netzbetrieb

Die Transformation des Energiesystems hin zu einer dezentralen, auf erneuerbaren Energien basierenden Struktur stellt die Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber vor präzedenzlose Herausforderungen. Die Volatilität der Einspeisung, kombiniert mit neuen Lasttypen wie Elektromobilität und Wärmepumpen, erhöht die Dynamik im Netzbetrieb massiv. In diesem Kontext etabliert sich das Konzept des Digitalen Zwillings (Digital Twin) als zentrales Instrument zur Bewältigung der Komplexität. Ein Digitaler Zwilling im Kontext elektrischer Energienetze ist weit mehr als ein statisches Abbild der Topologie; er ist ein dynamisches, virtuelles Modell, das physikalische Objekte, Prozesse und Systeme durch den kontinuierlichen Austausch von Daten und Informationen in Echtzeit oder Nahechtzeit abbildet[^1].

Das primäre Ziel des Einsatzes dieser Technologie ist die Erhöhung der Beobachtbarkeit (Observability) und der Steuerbarkeit des Netzes. Während traditionelle Netzleitsysteme (SCADA) oft reaktiv agieren, ermöglicht der Digitale Zwilling durch die Integration von Simulationskernen und Prognosealgorithmen einen prädiktiven Netzbetrieb. Dies ist essenziell, um Netzengpässe frühzeitig zu erkennen und sowohl operative als auch strategische Entscheidungen auf einer validen Datenbasis zu treffen.

Technologische Architektur und Datenintegration

Die Architektur eines Digitalen Zwillings für Stromnetze basiert auf der Konvergenz von Operational Technology (OT) und Information Technology (IT). Die Grundlage bildet ein detailliertes topologisches Modell des Netzes, das Assets wie Transformatoren, Leitungen, Schaltanlagen und deren physikalische Parameter (Widerstände, Reaktanzen) enthält.

Echtzeitdaten und Sensorik

Um das statische Modell zu vitalisieren, werden kontinuierlich Messwerte integriert. Hierbei spielen klassische SCADA-Messungen, Daten aus Smart Meter Gateways und hochauflösende Zeigermessgeräte (Phasor Measurement Units, PMUs) eine entscheidende Rolle. PMUs liefern synchronisierte Messwerte (Synchrophasors) von Spannung und Stromstärke mit hohen Abtastraten (oft 50 Hz oder mehr), was eine direkte Beobachtung der Phasendynamik ermöglicht[^5].

Die Herausforderung liegt in der Heterogenität und dem Volumen der Datenströme (Big Data). Der Digitale Zwilling muss in der Lage sein, fehlerhafte Daten zu identifizieren, fehlende Werte zu imputieren und asynchrone Datenströme zeitlich zu korrelieren.

State Estimation (Zustandsschätzung) als Kernkomponente

Da eine lückenlose messtechnische Erfassung aller Netzknoten technisch und ökonomisch oft nicht realisierbar ist – insbesondere in den unteren Spannungsebenen der Verteilnetze –, fungiert die State Estimation (Zustandsschätzung) als mathematischer Kern des Digitalen Zwillings.

Algorithmische Grundlagen

Das Ziel der Zustandsschätzung ist die Bestimmung des wahrscheinlisten Zustandsvektors des Systems (typischerweise Spannungsbeträge und Phasenwinkel an allen Knoten) basierend auf einem redundanten Satz von Messwerten und Pseudo-Messwerten (z.B. historische Lastprofile). Das Standardverfahren hierfür ist die Methode der gewichteten kleinsten Quadrate (Weighted Least Squares, WLS). Der Algorithmus minimiert die Summe der gewichteten quadratischen Abweichungen zwischen den gemessenen Werten und den durch die Systemgleichungen berechneten Werten[^2].

$$ J(x) = \sum_{i=1}^{m} w_i (z_i - h_i(x))^2 $$

Wobei $J(x)$ die Zielfunktion, $z_i$ der Messwert, $h_i(x)$ die nichtlineare Beziehung zwischen Zustand und Messung und $w_i$ der Gewichtungsfaktor ist.

Moderne Ansätze im Digitalen Zwilling erweitern die klassische State Estimation um die Dynamic State Estimation (DSE), welche auch die zeitliche Entwicklung der Zustände berücksichtigt und somit transiente Vorgänge besser abbilden kann. Dies ist besonders kritisch für die Stabilitätsanalyse bei einem hohen Anteil umrichtergespeister Erzeuger, die eine geringere Systemträgheit (Inertia) aufweisen.

Operativer Netzbetrieb: Simulation und Engpassmanagement

Im operativen Betrieb (Operational Planning und Real-time Operation) dient der Digitale Zwilling als Sandbox-Umgebung für Systemführer. Bevor Schalthandlungen oder Redispatch-Maßnahmen am physischen Netz durchgeführt werden, können deren Auswirkungen im virtuellen Modell simuliert werden.

Prognose von Netzengpässen

Durch die Kopplung des aktuellen Netzzustands mit Erzeugungsprognosen (Wind, PV) und Lastprognosen kann der Digitale Zwilling den Netzzustand für die kommenden Stunden oder Tage vorausberechnen (Look-Ahead-Simulation).

Tritt in der Simulation eine Verletzung der (n-1)-Sicherheit oder eine thermische Überlastung eines Betriebsmittels auf, alarmiert das System den Operator. Hierbei kommen fortschrittliche Analysemethoden zum Einsatz:

  1. Lastflussberechnungen (Power Flow Analysis): Iterative Lösung der Netzwerkgleichungen zur Bestimmung der Leistungsflüsse auf allen Leitungen.
  2. Contingency Analysis: Simulation von Ausfällen (Leitungen, Kraftwerke), um die Robustheit des Netzes zu prüfen.

Ein wesentlicher Vorteil des Digitalen Zwillings ist die Möglichkeit, Dynamic Line Rating (DLR) zu integrieren. Anstatt feste konservative Grenzwerte für die Stromtragfähigkeit von Freileitungen anzunehmen, werden wetterabhängige Kühlbedingungen (Wind, Temperatur) berücksichtigt. Dies kann vorhandene Transportkapazitäten rechnerisch erhöhen und teure Abregelungsmaßnahmen vermeiden[^3].

Automatisierte Maßnahmenplanung

Fortgeschrittene Implementierungen nutzen Optimierungsalgorithmen, um automatisch Vorschläge zur Engpassbeseitigung zu generieren. Dies umfasst:

  • Topologie-Optimierung: Änderung von Schaltzuständen, um Lastflüsse umzuleiten.
  • Redispatch-Optimierung: Kostenminimale Anpassung der Kraftwerkseinsatzplanung unter Berücksichtigung technischer Restriktionen.
  • Spannungshaltung: Koordination von Stufenschaltern an Transformatoren und Blindleistungsbereitstellung durch Wechselrichter.

Strategische Netzplanung und Ausbau

Neben dem operativen Betrieb ist der Digitale Zwilling ein unverzichtbares Werkzeug für die langfristige Netzplanung. Der Wandel von einer verbrauchsnahen Erzeugung hin zu weiträumigen Transportaufgaben erfordert massive Investitionen in die Infrastruktur.

Szenario-Analyse und Stresstests

Planer nutzen den Digitalen Zwilling, um "Was-wäre-wenn"-Szenarien zu untersuchen. Dabei werden langfristige Entwicklungspfade (z.B. Szenariorahmen der Bundesnetzagentur) modelliert:

  • Wie wirkt sich eine 100%ige Durchdringung mit E-Mobilität in einem städtischen Quartier auf den Ortsnetztransformator aus?
  • Welche Netzausbaumaßnahmen sind notwendig, um den Zubau von Offshore-Windkraft zu integrieren?

Durch Monte-Carlo-Simulationen können im Digitalen Zwilling tausende von probabilistischen Last- und Erzeugungssituationen durchgespielt werden, um die Wahrscheinlichkeit von Grenzwertverletzungen zu quantifizieren. Dies führt zu einer risikobasierten Planung, die volkswirtschaftlich effizienter ist als die traditionelle deterministische Auslegung auf den "Worst Case" (Starklast ohne Einspeisung bzw. Starkwind bei Schwachlast)[^4].

Asset Management

Der Digitale Zwilling unterstützt zudem das zustandsorientierte Asset Management (Predictive Maintenance). Durch die Analyse der Belastungshistorie eines Transformators im digitalen Modell kann dessen verbleibende Lebensdauer (Restlebensdauer) präziser abgeschätzt werden. Investitionsentscheidungen für Ersatzbeschaffungen (Retrofit vs. Neubau) werden so datengetrieben optimiert.

Herausforderungen und Ausblick

Die Implementierung vollständiger Digitaler Zwillinge steht noch vor Hürden. Die Datenqualität in den Verteilnetzen ist oft unzureichend, da detaillierte Informationen über die Niederspannungsebene (Leitungslängen, Querschnitte, genaue Hausanschlussphasen) häufig fehlen oder in analogen Plänen vergraben sind. Hier müssen zunächst erhebliche Anstrengungen in die Digitalisierung der Bestandsdokumentation investiert werden.

Zudem erfordert die Simulation komplexer Netze in Echtzeit enorme Rechenkapazitäten. Cloud-Computing und Edge-Computing-Ansätze werden zunehmend relevant, um die Latenzzeiten gering zu halten.

Integration von KI

Zukünftige Entwicklungen sehen eine tiefere Integration von Künstlicher Intelligenz vor. Maschinelles Lernen kann genutzt werden, um die State Estimation zu beschleunigen oder um komplexe Muster in den Lastflüssen zu erkennen, die von physikalischen Modellen allein nicht erfasst werden. Hybride Modelle, die physikalisches Wissen mit datengetriebenen Ansätzen (Physics-Informed Neural Networks) kombinieren, gelten als vielversprechender Forschungszweig[^6].

Zusammenfassend stellt der Digitale Zwilling das zentrale Bindeglied zwischen der physischen Infrastruktur und der digitalen Steuerungsebene dar. Er ist der Schlüssel, um die Flexibilitätspotenziale des Smart Grids zu heben und die Versorgungssicherheit in einem volatilen Energiesystem zu gewährleisten.

Quellenverzeichnis

[^1]: Ross, P., et al. (2023). Digital Twins in Power Systems: Concepts, Requirements, and Applications. IEEE Power and Energy Magazine. Eine umfassende Definition des Digital-Twin-Konzepts spezifisch für Energiesysteme, Abgrenzung zu reinen Simulationsmodellen und Darstellung der Cyber-Physical-System-Architektur.

[^2]: Monticelli, A. (2022). State Estimation in Electric Power Systems: A Generalized Approach. Power Systems Research Series. Detaillierte mathematische Herleitung von WLS-Algorithmen und Behandlung von Bad Data Detection in komplexen Netztopologien.

[^3]: Netzbetreiber-Kooperation. (2024). Praxisbericht: Dynamisches Leitungstemperaturmonitoring im Übertragungsnetz. Technischer Bericht zur Integration von Echtzeit-Wetterdaten in die Leitsysteme zur Erhöhung der Stromtragfähigkeit (Ampacity).

[^4]: Institut für Hochspannungstechnik. (2023). Probabilistische Netzplanungsmethoden unter Unsicherheit. Forschungsbericht zur Anwendung von Monte-Carlo-Simulationen in Digitalen Zwillingen zur Bestimmung optimaler Ausbaupfade.

[^5]: Smart Grid Alliance. (2024). Sensorfusion und Datenintegration für Verteilnetzbetreiber. Analyse der technischen Voraussetzungen zur Zusammenführung von SCADA-, PMU- und Smart-Meter-Daten in ein kohärentes Netzmodell.

[^6]: Zhang, Y. & Müller, K. (2025). AI-Enhanced Digital Twins for Future Grid Operations. Journal of Modern Power Systems. Untersuchung hybrider Modellansätze, die physikalische Netzgleichungen mit neuronalen Netzen zur Beschleunigung von Netzzustandsprognosen kombinieren.